Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
treten soll. Eigentlich müsste ich mich jetzt am Fels festhalten, um mich zum nächsten aus dem Wasser ragenden Brocken hinüberzuziehen. Geht aber nicht. Denn der Fels, an dem ich mich entlanghangele, ist rechts von mir. Rechts, wo die Hand dick bandagiert ist. Ich stehe wie angewurzelt, weiß keinen Ausweg. Vorwärts: Wie denn? Zurück: Geht auch nicht.
Ich hebe den Blick.
Unter dem ausgewaschenen Himmel und der matten betrügerischen Sonne, die keinerlei Wärme bereithält, bedroht die See das Land. Mit blendendem Schaum gekrönt, berennen die Wellen die Küste, durchsichtig klare Wasserberge, die Luft und Erde und sich selbst gegenseitig bekämpfen und die anbrüllen gegen die felsigen Klippen.
Kein Schiff hat sich heute hinausgetraut. So weit man sehen kann, nichts als Meer.
Ich bin kleiner als klein. Ich bin nichts. Kann irgendetwas unwichtiger sein als ein Mensch, der sich mutwillig zwischen Fels und See begibt?
Vorsichtig drehe ich mich halb herum, versuche, nicht auszugleiten. Nun kann ich mich mit dem Rücken ans Gestein pressen.
In diesem Getöse stehen. Die Augen zumachen. Nun, da einer der Sinne fehlt, treten die anderen umso stärker hervor. Ich höre: das Meer, wie es brüllt. Ich schmecke: Salz auf meinen eisigen Lippen. Ich fühle: den harten Stein hinter mir und das Prickeln des kaltenWindes auf den Wangen. Ich rieche: See und Fisch und Jod und die Dinge des Abgrunds, wenn alles Untere zuoberst gekehrt wird.
Auf einmal überfällt mich ein Gedanke: Das alles gibt es nur durch mich. Wenn ich nicht bin, ist es nicht da.
Ich aber bin lebendig und ich bin da. Und durch mich alles andere.
Und wenn ich mich nun schon halb umgedreht habe, dann werde ich irgendwie zurückgehen.
Ich öffne also die Augen und will die ersten Schritte tun.
Wo sind die Trittsteine? Wo ist diese Kante, der schmale Pfad, das Band, auf dem ich gekommen bin?
Es ist Flut.
Nur noch die glitschigen Kuppen der Steine ragen aus dem Nass, der Saum zwischen Meer und Fels ist bereits eine Handbreit überspült.
Isabelle, hast du das gewusst?
Ehe ich von dem schlüpfrigen Algenbewuchs abrutsche und ganz und gar ins Wasser falle, suche ich mir lieber gleich einen Weg auf dem Boden.
Ich taste vorsichtig mit dem Fuß. Fühle festen Grund, als ich ungefähr bis zum Knöchel eintauche. Da helfen die schönsten Gummigaloschen nichts. Es schwappt in die Schuhe und fährt mir wie flüssiges Eis in die Knochen.
Zurück hat den Vorteil, dass ich nun mit der linken, der gesunden Hand am Felsen bin und mich also abstützen kann, wenn ich ins Stolpern komme.
Zum Glück kann ich alles sehen, was zu meinen Füßen da unten ist, das Wasser ist glasklar. Zwischen kleineren und größeren schwarzen Steinen und hellem abgelagertem Sand, vorbei an Muscheln und seltsam geformten Algen, wate ich voran, umrunde die Felsnase, bis ich den Pfad und dann den Strand der Hafenbucht wieder erreiche. Meine Schuhe hinterlassen tiefe Spuren im Boden. Die ersten verspielten Wellen (oh ja, hier in der Bucht sind sie verspielt!), sie erreichen schon die hoch an Land gezogenen Boote.
Ich fühle meine Füße nicht mehr, als ich zum Bistro von Monsieur Fedan stakse. Als ich eintrete – dank der frühen Stunde gibt es noch keine Gäste weiter –, platschen meine Schritte, als würde ich Schwimmflossen tragen, und ich hinterlasse eine nasse Spur. Der dürre Wirt ringt die Hände und ruft sofort nach seiner Madame, einer kleinen Dame mit fein onduliertem Kopf und einer Küchenschürze von den Dimensionen eines Krankenhauskittels.
Man führt mich ins Hinterzimmer. Mir werden die Galoschen samt Schuhen und Strümpfen von den Füßen geschält und binnen Kurzem stecke ich bis zu den Knien in einem Eimer mit warmem, nach Thymian duftendem Wasser.
Wie Isabelle wusste: Monsieur hat mich bei meinem vorigen Aufenthalt auf Hermeneau kennen gelernt. Gaston ist damals mit mir durch das Städtchen promeniert und hat mich, seine deutsche Verwandtschaft, vorgeführt, und auch jetzt ist man keineswegs erstaunt über meine Anwesenheit; offenbar ist mein erneutes Kommen im ganzen Ort bekannt gegeben worden.
»Aber Mademoiselle, was um Gottes willen haben Sie denn nur gemacht?«, fragt der Wirt mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen.
»Ich wollte ein bisschen am Wasser spazieren gehen!«, sage ich unschuldig und erwähne mit keinem Wort, dass Isabelle mich in dieses unvernünftige Abenteuer hineingeschickt hat.
»Bei Flut und im Winter!« Madame schüttelt den Kopf
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