Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Fahrzeug lenken dürfen. Aber eigentlich kümmert es sie nicht. Mit Isabelle nach Cerbère fahren? Sie war ja schon einmal mit Gaston in dem Ort. Es war nett dort. Warum also nicht? Am Meer spazieren gehen? Warum nicht? Auch das ist möglich.
Isabelle öffnet schwungvoll die Tür zum Beifahrersitz, überlässt das Einsteigen und Schließen der Tür Leonie – sie ist ja schließlich nicht Gaston, der den Damen stets behilflich ist –, geht um das Auto herum, nimmt ihren Platz ein, startet und schießt durch das offene Tor wie ein Pfeil, der von der Sehne geschnellt wurde. Leonie muss sich mit ihrer gesunden Hand am Armaturenbrett abstützen und bei der ersten Kurve schließt sie die Augen.
So also fährt Isabelle! Eigentlich war es zu erwarten.
Sie nähern sich der steinernen Mauer des Viadukts. Wie ein Wall baut er sich vor ihnen auf, riesig und undurchlässig. Einst hat ein großer Architekt hier im Süden seine Vision einer Festung verwirklicht. Leonie hat das angstvolle Gefühl, jetzt gleich gegen diese Wand zu prallen. Der schmale Tunnel, dies Nadelöhr, das durch den Viadukt gebohrt ist, damit man ihn durchfahren kann, scheint gar nicht vorhanden. Aber gleichzeitig – und das ist das Bestürzende! – empfindet sie eine wilde Lust daran, in diesem Wagen wie besinnungslos draufzuzurasen.
Ein Gefühl, dem man nicht nachgeben darf. Schließlich gilt es ja noch zwei Buchstaben zu finden, damit Isabelle ihren Helfer bauen kann ...
Jetzt, der Tunnel. Dunkel und bedrohlich. Sie schießen hi - nein in den engen Spalt und werden wieder herausgeschleudert, als würden sie neugeboren. Vor ihnen öffnet sich die wilde Welt des Meeres. Der Wind ist zum Sturm geworden hier unten, er greift so heftig auf Gastons großes Auto zu, dass Leonie für einen Augenblick fürchtet, die Fahrerin würde die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren. Isabelle beugt sich nach vorn übers Lenkrad, lacht auf. Ihr gefällt das – sich mit den Elementen zu messen. Das sieht Leonie.
Der Wagen legt sich in die Kurve.
Vor ihnen nun die Häuser der Stadt wie hingeduckt, klein und ängstlich. Die Fischerboote im Hafen sind mit umgelegten Masten hoch auf den Sandstrand gezogen, haben sich selbst in Sicherheit gebracht. Nur der Turm der ockergelben Kirche und oben auf der Klippe das weiße Hotel »La Vigée« wagen, sich gegen den Himmel aufzurecken und standzuhalten.
Isabelle steuert durch die engen Straßen, als würde es außer ihnen niemanden auf der Welt geben, und bremst schließlich auf dem Marktplatz – wieder muss sich Leonie abstützen. Isabelle steigt aus und geht mit weit ausgreifenden Schritten auf eine Seitengasse zu. »Komm!«, sagt sie über die Schulter, und Leonie ist gar nicht fähig zu fragen, wohin, denn die alte Frau strebt mit Siebenmeilenschritten vorwärts. Also läuft sie einfach nur hinterher. Der Sturm beutelt sie.
Die Leute von Cerbère, die ihnen begegnen (warum bleiben sie bei diesem Wetter nicht lieber zu Hause?), grüßen alle, Leonie würde fast sagen: Sie grüßen ehrfurchtsvoll.
Aber es gibt auch einige, das sieht Leonie, die ihnen entgegenkommen und dann, wenn sie Isabelle erblicken, schnell auf dem Absatz kehrtmachen und wieder dahin zurückgehen, woher sie gekommen sind. Haben sie wohl Scheu vor der seltsamen »Krankheit« der Frau aus dem Schloss, diesen »Anfällen«?, fragt sie sich. Aber sie wirken eigentlich nicht wie Leute, die sich bei einer Sache unbehaglich fühlen. Eher wie welche, die jemandem einfach nicht begegnen wollen.
Isabelle scheint nichts davon zu bemerken. Sie geht weiter schnell geradeaus.
Dann haben sie das Ziel erreicht: Es ist ein Laden mit einer engbrüstigen Front zur Straße, neben der Tür aus verwittertem Holz ein schmales Schaufenster, in dem zu Leonies Verwunderung ein rostiger Anker und ein paar große Muscheln liegen, sonst nichts.
Drinnen, zwischen bis zur Decke reichenden Regalen und Schrän ken, erhebt sich hinter einem Tresen ein rotwangigerMann, das Gesicht gleichsam umrahmt von einem Kranz dunklen krausen Haars, und begrüßt Isabelle, indem er ihre Hand mit beiden Händen ergreift und schüttelt. »Madame, was kann ich für Sie tun?« Leonie weiß immer noch nicht, was in diesem Geschäft eigentlich verkauft wird – alte Anker werden es ja doch nicht sein –, als der Mann unter den Verkaufstisch langt und so blitzschnell wie ein Zauberkünstler eine Flasche und drei Gläser hervorholt, sie halb voll schenkt, erneut nach unten greift, einen bauchigen Krug
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