Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
kaut an seiner Lippe, verlegen, weiß nicht, wohin er gucken soll. »Je m’appelle Bertrand«, sagt er. Ich heiße Bertrand.
»Ich weiß«, entgegnet Leonie.
»Und wie heißt du?«
»Leonie Lasker«, sagt sie, »das wissen Sie doch.« Und er wiederholt: »Leonie Laskère«, und spricht ihren Nachnamen so aus wie Isabelles. Und dann – es konnte gar nicht anders kommen – sagt er: »Leonie ist ein sehr schöner Name. Und du bist sehr hübsch.«
Und legt den Arm um sie.
Das Ganze ist lächerlich.
Gleich wird er versuchen, mich zu küssen, denkt Leonie. Ob ich irgendetwas fühle, wenn er mich küsst? Wenigstens mein Körper müsste doch reagieren, wenn in Kopf und Herz nur Öde herrscht.
Ja, er küsst sie.
Da sitzt sie neben ihm, hebt die Hand und befühlt ihre Lippen. Sie wusste nicht, dass man so gar nichts empfinden kann, wenn man geküsst wird. Ihr Mund fühlt sich kühl an, so kühl wie die Luft, die durch die undichten Zellglasfenster hereinzieht.
»Sind alle Boches solche Eisblöcke?«, fragt er. Sein Gesicht ist gerötet.
»Ich möchte das nicht«, erwidert sie.
Er atmet schwer. »So etwas lieben wir«, sagt er. »Mit ins Auto einsteigen, sich rumfahren lassen, und dann dem Mann die kalte Schulter zeigen. Komm, ma petite , zier dich nicht so. Du willst es doch auch.«
»Nein«, entgegnet sie dem »Mann« und schüttelt den Kopf. »Ich will gar nichts. Wollte am Meer spazieren gehen, weiter nichts. Bringen Sie mich bitte zurück. Das ist ein Missverständnis.« Sie ist ganz ruhig, sie regt sich nicht auf. Kein bisschen. Wartet darauf, was als Nächstes kommt.
Statt einer Antwort schiebt er seine Hand unter ihren Pullo ver.
»Lassen Sie das.«
Er lacht.
Sie holt aus und schlägt ihm ins Gesicht, fest, aber ohne Zorn. Er fährt zurück und starrt sie wütend an. »Verdammt, was soll das?« »War das nicht klar? Ich will nicht.«
Er greift wieder nach ihr, aber sie öffnet die Tür auf ihrer Seite und springt aus dem Fahrzeug. Ohne Hast, mit weiten Schritten, den Regenmantel in der Hand, beginnt sie, den Weg, auf dem sie gekommen sind, zurückzugehen.
Er startet den Motor des Wagens, wendet, fährt los, neben ihr her.
»He, steig wieder ein! Spiel nicht die Beleidigte! Wenn du partout nicht willst, dann eben nicht. Nun mach schon! Kannst ja nicht die ganze Strecke zurücklaufen!«
Sie antwortet nicht, geht schneller. Er fährt neben ihr her, sehr dicht, sie muss ausweichen, vom Weg auf den winterlich welken Rasen des Seitenstreifens; der Schotter spritzt ihr um die Beine. Nun beginnt er auch noch zu hupen.
Es reicht.
Da ist der Friedhof. Zwischen der steinernen Mauer und der Straße ist gerade Platz für einen Menschen, wenn er aufpasst. DerKotflügel des Gefährts ist dicht an ihrem Bein. Sie wird in die Enge getrieben ...
Da, das schmiedeeiserne Tor, der Eingang. Sie drückt einen der Torflügel auf. Ist drinnen. Lehnt sich mit dem Rücken an die Friedhofsmauer. Atmet tief durch.
Er hupt da draußen noch ein paar Mal wild und herausfordernd, dann heult der Motor auf. Bertrands Dreirad entfernt sich.
Leonie blickt sich um. Sie ist allein. Allein auf einem Friedhof.
Eigenartig, denke ich. Ich habe mich während dieser ganzen Geschichte kein bisschen gefürchtet. Ich habe mich nicht einmal sehr aufgeregt. Ich wollte es einfach nur nicht.
Friedhof. Letzte Ruhestätte.
Bei mir zu Hause, in Deutschland, sind die Friedhöfe kleine Parks; Bäume, Sträucher, Rasen, Ruhebänke. Und für die Reichen große Grabmale mit weinenden Engeln aus Marmor, Urnen und gebrochenen Säulen. Ich hab Friedhöfe gemocht früher. Das Grün, die Stille, das Besänftigende. (Nachdem meine Mutter gestorben war, bin ich gern hingegangen, aber eigentlich nicht, um ihr Grab zu besuchen ...) Hier aber gibt es nur die zwei Zypressen am Eingang. Sonst, durch Kieswege getrennt, Grab neben Grab. Nackter Stein. Stein und Namen. Bei manchen ist hinter Glas ein vergilbtes Foto des Verstorbenen eingefügt. Nichts Sentimentales. Keine großen Erinnerungen, keine Tränen.
Ich gehe langsam durch die Reihen der toten Bürger von Cerbère.
Steinmassen, ein Grab wie das andere. Ganz sachlich und nüchtern. So geht es auch. Wenn man an jemanden denken will, dann muss man doch nicht dorthin gehen, wo seine sterblichen Überreste vergraben sind. Dann muss man doch nur bei sich selbst sein...
»Ich will, dass es für immer ist ... « (Ich schließe die Augen. Nein. Hier nicht.)
Ich ziehe den Pullover fester um mich und
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