Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
den Garderobentisch, verfehlt ihn wie fast im mer und sagt: »Danke, Puppchen!«, als Leonie aus »ihrer« Küche hinzuspringt und die Sachen aufhebt.
»Aber wir werden wieder spielen!«, verkündet er mit schallender Stimme, und als habe der Prinz gerade Dornröschen geküsst und das Schloss zu neuem Leben erweckt, gehen die Türen auf: Madame kommt aus dem Salon, wo sie sich gerade mit der Neuordnung von irgendwelchen Porzellanfi gürchen auf der Konsole die Betrübnis vertreiben wollte; sie fällt ihrem Mann um den Hals und küsst ihn, und der Heldendarsteller mit seiner Narbe neben der samtschwarzen Braue (»Man hat mich fürs Leben entstellt, Leonie!«) hat sich augenblicklich von seinem Lager erhoben und vollführt mit schnipsenden Fingern einen kleinen sephardischen Tanz.
Auch Leonie fällt ein Stein vom Herzen. Endlich wieder auf der Bühne stehen!
Und als Schlomo mit gewohntem Pathos den »Sternensohn« zitiert: »Gekommen ist die Zeit! Gerettet wird mein Land!«, fällt sie ein: »Gott wird dir senden seinen Engel, zu dir tun wir blicken!«
Einen Monat lang »Bar Kochba«, wenn alles gut geht, vor wohlwollendem Publikum!
Allerdings gibt das noch einmal viel Arbeit. Die Abmessungen der Bühne des Concordia sind ganz anders und vor allem gibt es viel weniger Lichtquellen als bei dem guten Adi Oberländer im Saal. Das heißt nicht nur, dass die Bühnentechnik vor ganz neuen Aufgaben steht, sondern auch die Darsteller. Da müssen Arrangements verändert werden, neue Abläufe entwickelt. Sie werden richtig zu tun haben. Leonie freut sich darauf.
Danach, nimmt sie sich vor, wird sie mit Schlomo gemeinsam mit Mendel Laskarow reden. Wird ihn um den goldenen Buchstaben bitten, um ihn noch bis zum Jahresende zu Isabelle zu bringen.
Aber heute wird zur Feier des Tages erst einmal gekocht: etwas, was schnell geht, denn die ganze bis vor Kurzem noch so weitgehend appetitlose Familie hat auf einmal einen Bärenhunger. So improvisiert Leonie mit Schlomos Hilfe aus dem, was da ist: Ein Stück Rindfl eisch gibts, mit Ingwer, Estragon und Salbei, und als Dessert geschmolzene dunkle Schokolade mit Walnüssen, geschlagenem Eiweiß und ein paar Löffelchen Cognac; die Finger des Hauptdarstellers sind mehrfach in Gefahr, denn Leonie droht ihm mit dem Messer, wenn er sie noch weiter in die Creme steckt und ableckt. –
»Kann mir einer erklären, was das ist?«
Unter Schlomos Post finden sich selten solche ernsthaft aussehenden Briefumschläge. Die meisten sind zartfarbig oder gar mit aufgeklebten Blümchen verziert und werden immer erst geöffnet, wenn sie über den Rand des Ablagekorbs auf dem Schreibtisch hinausquellen. Dies hier ist ein nüchtern weißes Kuvert. Absender: Rundfunk von Berlin.
Rundfunk? Was ist das?
Der Prinzipal weiß alles, schließlich ist er der Mann, der die Zeitungen studiert. Also: Seit ungefähr einem Monat gibt es in der Hauptstadt nach amerikanischem Vorbild einen sogenannten »Radiosender«. Das ist das Prinzip des Morseapparats. Bloß da funkt nicht nur ein »Sender« an einen anderen Einzelnen, sondern da können viele zuhören. Musik und Gespräche hören, falls man denn ei nen Empfänger hat.
Einen Empfänger? »Das ist ein Apparat, so ähnlich wie ein Telefon, bloß dass man nicht mit dem anderen reden kann. Nur lauschen«, erklärt das Familienoberhaupt. »Man schaltet ihn ein und los geht’s. Da könnte man sogar Caruso hören, wenn er noch leben würde.« Wir drei kriegen den Mund nicht mehr zu.
»Und wer hat so einen Empfänger?«, fragt Selde.
»Eine Handvoll Leute in Berlin«, sagt ihr Mann, »aber die Sache hat Zukunft, wenn ihr mich fragt. Es soll jetzt schon vier oder fünf Stunden am Tag ›Sendungen‹ geben. Meistens Musik.«
Die Hausfrau bekommt sehnsüchtige Augen. Ich kann mir vorstellen, wie gut sie das fände, so etwas zu haben und Musik zu hören, wenn sie ihre Rechnungsbücher durchwühlt.
»Aber ich soll bei denen keine Musik machen!«, bemerkt Schlomo, der inzwischen seinen Brief mit gerunzelter Stirn studiert. »Ich soll da reden mit einem Reporter. Ein Interview, nennen die das. Wie bei den Amerikanern.« Er lacht.
Der Hausherr wirkt beunruhigt. »Junge, worüber sollst du denn reden?!«
»Also hier steht: Sehr geehrter ... na, das Übliche ... in Anbetracht der kulturellen Belange ... Kauderwelsch, versteh ich nicht ... würde unser Reporter, Herr Seibt, Sie gern für unseren Sender inter-view-en.« Er grinst. »Was für ein Wort!« Er zitiert
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