Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
ein. Bis der letzte Zug für heute fährt, bleiben uns noch fast zwei Stunden Zeit. Wirst du mir die gönnen, damit ich dir etwas erkläre? Es geht um eure Familie, um die Geschichte der Laskers. Und um das, was Isabelle von dir wollte. Und danach kannst du dann fahren – mit un serem Segen.«
Wortlos steige ich ein.
7
Gaston parkt vor dem Gebäude. »Wollen wir im Wagen sitzen bleiben oder aussteigen?«, fragt er.
»Ich möchte aussteigen«, sagt Leonie, obwohl ihr klar ist, dass es sicher viel bequemer im Auto ist.
Er nickt schweigend und hebt ihren Koffer aus dem Wagen.
Der Bahnhof von Port Bou ist menschenleer und der Fahrkartenschalter geschlossen. Eine Zollschranke, die Bahnhofshalle und Perrons trennt, ist verriegelt. (Schließlich ist Port Bou Grenzstation nach Spanien und nur kurz vor Ankunft der Züge wird der Zugang zu den Bahnsteigen gewährt.)
Eine lange Holzbank zieht sich an der Wand der kahlen Wartehalle hin. Die einzige Sitzgelegenheit. Gaston platziert den Koffer davor und lädt Leonie zum Sitzen ein. Sie nimmt Platz, ihren Hut auf dem Schoß, die Füße nebeneinander, brav wie ein Schulmädchen, und sieht vor sich hin. Eigentlich will sie gar nichts mehr hören. Aber nun gut, soll der alte Mann loswerden, was er loswerden will.
»Ich möchte dir von Isabelles und deiner Familie erzählen«, fängt Gaston mit gedämpfter Stimme an. »Gestern habe ich dir gesagt, dass die Laskers, oder die Laskères, wie sie hier in Frankreich heißen, zum jüdischen Adel gehören, und du warst verwundert. Es ist eine Umschreibung. Ich habe damit gemeint, dass diese Familie eine ununterbrochene Tradition der Erinnerung hat, zurück bis in jenes Jahr 1492, als die Vorfahren aus Spanien fortmussten. Und mit der Erinnerung auch die Verpfl ichtung, bestimmte Geheimnisse zu wah ren.«
»Du meinst diese Kabbala?«, fragt Leonie unsicher.
»Zu der Kabbala komme ich später, Kind. Da war noch anderes.
Die Laskère, oder Lasker, Beni Lascari, Lazcaro – sie nennen sich anders, je nachdem, in welchem Land sie sich gerade aufhalten – taten bald dies, bald jenes, beschäftigten sich so oder so. Aber immer gab es drei Dinge, auf die sie sich alle gut verstanden, ganz gleich wo sie lebten, von Westeuropa bis zum Bosporus: Musik und Spielen, und Tanzen gehörte auch zu diesen Begabungen. Manche von ihnen erlangten Berühmtheit. Da gab es einen geachteten Musiker an der Hohen Pforte, dem Hof der türkischen Sultane, und man weiß, dass ein Mitglied der illustren Theatertruppe Molières, des großen Komödienschreibers und Schauspielers im 17. Jahrhundert, ein Laskère war. Ihre andere besondere Kunst aber war die Zubereitung köstlicher Gerichte nach geheimen Rezepten – so wie Isabelle, so wie dein Vater, so wie du. Ein Laskère brachte es bis zum Leibkoch bei einem Herzog von Orléans, ein anderer gründete ein berühmtes Feinschmeckerrestaurant in Marseille. Sie mochten sich entzweien und in alle Welt zerstreuen: Daran erkannten sie sich wie der. An ihren Liedern und an ihren Speisen. Sie erkannten sich an Fuego y sapor. So jedenfalls hat es mir Isabelle erzählt, und wir haben ja gesehen, dass es zu stimmen scheint, auch bei dir.«
Er lächelt, aber Leonie erwidert das Lächeln nicht.
»Doch darüber hinaus, du hast recht, gab es noch eine andere Überlieferung in dieser stolzen und berühmten Familie, und das war die der Kabbala. Nachdem anfangs ein weiser Rabbi mit Namen Lasker mit ihrem Studium begonnen hatte, beschränkte sich im Weiteren das Geheimwissen stets nur auf die Frauen.«
»Wieso auf die Frauen?«, fragt Leonie unwillkürlich. Das interessiert sie.
»Wenn die Mutter Jüdin ist, gilt auch das Kind als jüdisch.«
»Aber meine Mutter war keine Jüdin!«, sagt Leonie, und ihre Stimme klingt rebellisch. »Also geht mich das ja nichts an!«
»Ich weiß«, entgegnet Gaston beschwichtigend. »So kann man es sehen. Aber es gibt Ausnahmen. Wie bei allem auf der Welt. Isabelle hat es errechnet.«
Leonie hat keine Lust, nachzufragen, was er damit meint, und erfährt auch schon fort. »Nach dieser Überlieferung war eine bestimmte Art von Wissen in der Familie nur den Frauen vorbehalten, wie ich dir eben sagte. Es gehörten aber zum Wissen auch noch Dinge , die auf unergründlichen Wegen in die Familie gekommen und die vonnöten waren, wenn man eine bestimmte Beschwö rung durchführen wollte.«
Er macht eine Pause, wartet wohl auf ihre Frage. Sie stellt mit Absicht keine.
»Das Wissen der Laskers
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