Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
es geschehen ist, war in Prag, da hast du recht. Der hohe Rabbi Löw hat ihn gebaut vor fast fünfhundert Jahren. Und der Golem stand wie eine Mauer vor den Juden und verhinderte ihre Ermordung, als die Meute auf sie losgehen wollte.«
Leonie hat, während Gaston spricht, aus dem Fenster gesehen. Nun wartet sie, ob noch etwas kommt. Aber Gaston sagt nichts mehr.
Eine Weile herrscht Schweigen im Raum. Sie fragt sich, ob das für heute alles sein soll. Aber nein! Gaston fährt fort: »Vom Golem hattest du also gehört. Gestern habe ich etwas von der Kabbala gesagt.«
Leonie presst die Lippen aufeinander.
Auf dem Tisch stehen zwei Karaffen, eine mit Wein, eine mit Wasser. Gaston schenkt ein: Wein für sich und Isabelle, Wasser für Leonie. Die beiden alten Leute trinken sich zu und sehen sich dabei bedeutungsvoll in die Augen. Leonie muss ihr Wasser auf einen Zug hinunterstürzen. Sie rettet sich in ein Lachen. »Da oben auf dem Berg, ja? Kabbala, Kaballala, Abrakadabra – ist das irgendein Hokuspokus?« Das ist ihr so rausgerutscht. Jetzt merkt sie, dass es schlimm klingt.
Isabelles Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz. »Du solltest dich nicht über Dinge lustig machen, die du nicht kennst«, sagt sie heftig. Gaston legt ihr besänftigend die Hand auf den Arm, und sie fährt ruhiger fort: »Eigentlich heißt das Wort nur ›Überlieferung‹. Als wir aus Spanien gejagt wurden, da machte man uns Juden mit Gewalt das wieder bewusst, was wir in den Jahrhunderten des Glücks und der Sicherheit in diesem Land fast vergessen hatten: dass wir Flüchtlinge sind und Vertriebene. Dass wir eigentlichkeine Heimstatt haben außer in der Lehre Gottes. In dem, was in unseren Büchern steht. Wir sind ein Büchervolk, so ist es. Ein Volk von Lesenden und Schreibenden.«
Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht.
»Und wir wussten: So wie wir im Exil sind, ist Gott selbst im Exil. So wie wir verstreut sind über alle Welt, ist Er selbst verstreut in der Welt. Und nur das Geschriebene, das Wort, hat die Macht, die Dinge zum Besseren zu wenden. Uns zusammenzuführen, uns zu schützen, etwa indem wir die Zehn Gebote des Miteinanderlebens befolgen. Das würde reichen. Andere von uns aber gehen einen Schritt weiter. Sie sind der Ansicht, dass man darüber hinaus ins Weltgetriebe eingreifen und es bewusst verändern kann. Zugunsten unseres Volkes. Das sind die Anhänger der Kabbala.«
Sie macht eine Pause und Leonie stürzt noch ein Glas Wasser he runter.
»Aha«, sagt sie. Offenbar wartet man auf eine Frage von ihr. Also sagt sie: »Und wie eingreifen?«
Die alte Frau verschränkt die Arme hinterm Kopf und lehnt sich zurück. Ihr Gesicht ist nun außerhalb des Lichtkreises der Kerzen, liegt im Halbdunkel.
»Am Anfang war das Wort – so steht es doch auch in der Bibel, die du kennst, nicht wahr?«
Leonie nickt stumm.
»Das Wort kann schaffen und errichten. Die Kabbala nun hat sich unter anderem mit den Zeichen beschäftigt, aus denen sich das Wort zusammensetzt, mit den Buchstaben und ihrer Bedeutung, denn die Anhänger dieser Lehre wissen, dass nichts von ungefähr ist auf der Welt. In unserem hebräischen Alphabet bedeuten die Buchstaben gleichzeitig Zahlen. Aus der Aneinanderreihung und Kombination von Zahlen und Buchstaben kann man etwas erschaffen und etwas vernichten. Verstehst du?«
»Im Buch? Auf dem Papier?«
»In der Welt. In der Wirklichkeit.«
»So etwas kann doch kein Mensch glauben!«, entfährt es Leonie.
»Man kann es nicht nur glauben. Man kann es auch ausführen!«, sagt Isabelle scharf. »Damit du es weißt: Ich bin Kabbalistin.«
»Ach!«, sagt Leonie spöttisch. Sie kann nicht mehr an sich halten bei dem, was ihr hier vorgesetzt wird. Und langsam tut ihr die alte Frau in ihrem Wahn leid. »Und du wirst nun also anfangen, auf das Weltgetriebe einzuwirken, ja?«
Es ist ihr herausgerutscht. Sie wollte es nicht so scharf sagen.
Isabelle will auffahren. Wieder legt sich Gastons Hand beruhigend auf ihren Arm. »Belle!«, sagt er beschwörend. »Denk dran, dass Leonie es verstehen muss. Du brauchst sie doch!«
Isabelle schüttelt seinen Arm ab. Sie ist aufgestanden, steht im Raum so kerzengerade wie eine der Zedern, die hier am Olivenhang wachsen. Sie ballt die Fäuste wie im Krampf. »Sie wird es verstehen, weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt!«, sagt sie, und in Leonies Ohren klingt es drohend. »Denn sie ist auserwählt, da kann sie sich sträuben, wie sie will. Ich, Isabelle Laskère, werde
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