Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
ihr zu Hause auch ›Zehn kleine Negerlein‹?«
Leonie: »Schwuli!«
Ich höre wohl nicht richtig. »Wie bitte?«
»Sie möchte ihren Schnulli«, erklärt Anne und steckt Leonie den Schnuller in den Mund. »Der Schn-Laut klappt noch nicht so ganz, aber sonst spricht sie schon ganz gut, oder?«
»Gut«, wiederholt Leonie, den Gummisauger jetzt bis zum Ansatz im Mund.
»Meinst du echt, dein Verlobter ist sauer, weil du mit mir zwei Wochen Liebesurlaub machst?«, stichele ich.
»Leonhardt findet das nicht sonderlich gut, akzeptiert aber meine Entscheidung, weil er weiß, wie wichtig mir die Rückkehr in den Job ist. Er unterstützt mich, wo er kann.«
Puh! Solche Phrasen wollte ich nie hören müssen.
Anne sieht mich an. »Und was sagt deine Freundin dazu? Hast du überhaupt eine?«
»Nein, ich habe keine Beziehung. Aus ideologischen Gründen.«
»Idiotischen …«, versucht es Leonie.
»Nein, Leonie, ideologisch«, erklärt ihre Mutter. »Das ist das Gegenteil von idiotisch. Eigentlich. Aber in diesem Fall passt beides.«
Ein Tempo-80-Schild bremst den Verkehr ab, der Touran wechselt auf meine Fahrbahn. Das ist die Chance: Ich beschleunige erneut auf hundertdreißig und schere aus, auf die Überholspur. Als ich schon fast am Touran vorbeigezogen bin, wird Anne laut.
»Hier ist achtzig!«, schimpft sie, als würden wir auf einen Abhang zurasen.
»Der Touran hat hundertsiebzig PS. Den kann ich nur im Tempolimit überholen.«
»Du hast ein Kind im Auto. Und das ist definitiv kein Ding zwischen dir und ihm. Wir sind jetzt eine Familie. Besser, du gewöhnst dich daran.«
Ich seufze, blinke und reihe mich wieder in die Karawane der Lkw ein.
»Schwuli«, nuschelt Leonie und schmatzt zufrieden an ihrem Schnuller.
Willkommen, Welcome, Bienvenue und Isten hozott!
Es dämmert bereits, als wir das Holzschild entdecken. Darauf prangt ein Männchen, das sich wild gebärdet, Arme und Beine in entgegengesetzte Richtungen wirft. Dazu würde ein Hinweis passen wie: »Irrenanstalt 50 Meter« oder »Zum Exorzismus bitte hier entlang!« Stattdessen steht da: »Familienhotel Zum Wilden Mannle«.
Drei Stunden sollte die Fahrt ins Ötztal dauern. Allerdings waren da Pinkelpausen, Schreipausen und Diskussionspausen genauso wenig eingerechnet wie Annes Abkürzungen. Zuerst dachte ich, sie wollte mich in den Wald locken und der Familiengöttin opfern, aber schließlich musste sie zugeben, dass wir uns heillos verfahren hatten. Leonie ist irgendwann einfach eingeschlafen – mitten in der 372. Strophe von »Aramsamsam«. Dafür kriege ich das Lied nicht mehr aus dem Kopf.
Vergangene Woche hat die ganze Redaktion versucht, mich zum Ötztalfan zu bekehren. Die Kollegen schwärmten von sattgrünen Wiesen, pittoresken Pfaden, rustikalen Almen, blauem Himmel und sonnengebräunten Menschen: Bäche, Bäume, Bullen und Bergseen. Es schien ihnen überhaupt nicht seltsam vorzukommen, dass dort alle schon mal Urlaub gemacht haben. Offenbar ist das Ötztal so was wie der Ballermann für Familien.
Auf dem Weg hierher habe ich nämlich nur Dörfer voller Touristen gesehen, Skiläden, Wander-Stores und Gaudihütten. Dicht an dicht standen Supermärkte neben Hotels, auf den Bürgersteigen Rentner mit Saunahaut, in den Serpentinen Fahrradfahrer mit verbissenem Gesicht und überall: Familien in identischer Goretex-Kleidung. Oben auf den Berghütten spielen die Einheimischen wahrscheinlich Neonjackenmemory.
Erst als wir die Touristenhochburgen hinter uns gelassen hatten, änderte sich das Bild: Wild- und Wiesenblumen in Lila und Türkis säumten die Straßen, Häuser und Hotels machten sich ebenso rar wie Gegenverkehr, und sogar der Himmel erschien mir hier weiß-blauer als über München.
Je höher wir kamen, desto weniger Bäume versperrten uns den Blick auf die Berge. Grüne Wiesen, gelbe Wiesen, braune Wiesen, Kühe, Ziegen, Schafe und immer wieder Frühlingsblumen. Ein Gefühl wie in den alten Heimatfilmen – und die habe ich nie gemocht.
Das Hotel liegt nur einige Kilometer entfernt vom kleinen Örtchen Vent. Der Berg Wildes Mannle ist deutlich weiter weg, eignete sich aber seinerzeit wohl besser zum Namenspatron für ein Liebesnest als andere Ötztaler Gipfel wie der Kirchenkogel oder die Verpeilspitze. Ich persönlich hätte das Hotel ja nach meinem Tiroler Lieblingsberg getauft, der Sexegertenspitze.
Die Ötzi-Fundstelle liegt nicht besonders weit entfernt. Vielleicht war die Mumie am Ende bloß ein entflohener Familienvater,
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