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Dreifach

Titel: Dreifach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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waren tot – der Vater war bei einem Angriff auf die Golanhöhen im letzten Krieg von einer Granate getötet worden, die Mutter war ein Jahr vorher bei einem Schußwechsel mit den Feddajin umgekommen. Beide waren enge Freunde von Dickstein gewesen. Es war natürlich eine Tragödie für den Kleinen, aber er schlief immer noch im selben Bett, aß im selben Zimmer und hatte fast hundert andere Erwachsene, die ihn liebten und umsorgten. Mottie wurde nicht unwilligen Tanten oder alternden Großeltern aufgezwungen, oder, noch schlimmer, in ein Waisenhaus gesteckt. Und er hatte Dickstein.
    Nachdem sie sich den Staub abgewaschen hatte, zog Karen saubere Kleidung an und näherte sich Dicksteins Zimmer. Mottie war schon da, saß auf Dicksteins Schoß, lutschte am Daumen und hörte sich Die Schatzinsel auf hebräisch an. Außer Dickstein kannte Karen niemanden, der hebräisch mit einem Cockney-Akzent sprach. Seine Aussprache war jetzt noch seltsamer, da er den Personen in der Geschichte verschiedene Stimmen verlieh: Jim hatte eine hohe Jungenstimme, Long John Silver knurrte tief, und der wahnsinnige Ben Gunn flüsterte fast. Karen saß da und betrachtete die beiden in dem gelben Licht der Deckenlampe. Wie jungenhaft Dickstein wirkte, und wie erwachsen das Kind war!
    Als das Kapitel zu Ende war, brachten sie Mottie in seinen Schlafsaal, gaben ihm einen Gutenachtkuß und betraten das Eßzimmer. Karen dachte: Wenn wir weiter so oft zusammen gesehen werden, müssen alle glauben, daß wir schon ein Liebespaar sind.
    Sie setzten sich zu Esther. Nach dem Essen erzählte sie ihnen eine Geschichte. In ihren Augen funkelte derSchalk wie bei einer Jungen. »Als ich zum erstenmal nach Jerusalem kam, hieß es allgemein, daß ein Haus kaufen könne, wer ein Federkissen besäße.«
    Dickstein biß gern auf den Köder an. »Wieso?«
    »Man konnte ein Federkissen für ein Pfund verkaufen. Mit diesem Pfund konnte man in einen Darlehnsverein eintreten, was einem das Recht gab, zehn Pfund zu borgen. Dann suchte man sich ein Stück Land. Der Eigentümer des Landes nahm zehn Pfund als Anzahlung und den Rest in Schuldscheinen. Nun war man Landbesitzer. Man ging zu einem Bauherrn und sagte: ›Baue dir ein Haus auf diesem Grundstück. Ich möchte nur eine kleine Wohnung für mich selbst und meine Familie.‹«
    Sie alle lachten. Dickstein blickte zur Tür hinüber. Karen folgte seinem Blick und sah einen Fremden, einen stämmigen Mann über vierzig mit einem derben, fleischigen Gesicht. Dickstein stand auf und ging auf ihn zu.
    Esther wandte sich an Karen. »Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen, Kind. Der taugt nicht zum Ehemann.«
    Karen schaute erst Esther, dann wieder die Tür an. Dickstein war verschwunden. Ein paar Sekunden später hörte sie das Geräusch eines Autos, das angelassen wurde und fortfuhr.
    Esther legte ihre alte auf Karens junge Hand und drückte sie fest. Karen sollte Dickstein nie wiedersehen.

    *

    Nat Dickstein und Pierre Borg saßen auf dem Rücksitz eines großen schwarzen Citroën. Borgs Leibwächter steuerte; seine Maschinenpistole lag auf dem Vordersitz neben ihm. Sie fuhren durch die Dunkelheit, und vor ihnen war nichts als die Lichtkegel der Scheinwerfer. Nat Dickstein hatte Angst.
    Er schätzte sich nie so ein, wie andere es taten – als fachmännischen, sogar brillanten Agenten, der seine Fähigkeit,fast alles zu überleben, bewiesen hatte. Später, wenn die Mission begonnen hatte, er sich auf seinen Verstand verlassen mußte und spontan mit Strategie, Problemen und Persönlichkeiten fertig zu werden hatte, würde es für Angst keinen Platz geben. Aber jetzt, während Borg ihn instruieren wollte, konnte er keine Pläne schmieden, keine Voraussagen weiterentwickeln, keine Charaktere einschätzen. Er wußte nur, daß er Frieden und schwere körperliche Arbeit, das Land, die Sonne und die Sorge um wachsende Pflanzen hinter sich lassen mußte und daß vor ihm schreckliche Risiken und große Gefahr, Lügen und Schmerz, Blutvergießen und – vielleicht – sein eigener Tod lagen. Deshalb drückte er sich in die Ecke des Sitzes, hatte Arme und Beine fest gekreuzt und beobachtete Borgs schwach erleuchtetes Gesicht, während die Furcht vor dem Unbekannten seinen Magen verkrampfte und ihm Übelkeit verursachte. In dem matten, wechselnden Licht sah Borg aus wie der Riese im Märchen. Er hatte massige Züge: dicke Lippen, breite Wangen und hervorstehende Augen, die von dichten Brauen überschattet waren. Als Kind hatte er immer

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