Dreihundert Brücken - Roman
gekommen ist, findet sie kein einziges Kleidungsstück im Flur vor. Die Wohnung ist leer. Dimitri musste beruflich nach Moskau fahren und kommt erst am Abend zurück. Roman, der Jüngere, ist in der Schule, und Maxim lässt sich manchmal wochenlang nicht sehen. Sie schließt die Tür und bückt sich nach einem Zettel auf dem Fußboden. Eine Benachrichtigung von der Post. Ihr Name steht darauf. Es ist eine Karte, sie braucht also keinen Umschlag zu öffnen, um zu wissen, worum es geht. Sie soll zur Hauptpost in der Pochtamtskaya-Straße kommen und eine Sendung abholen. Keinerlei weitere Information, auch nichts über den Absender. Anna kann sich überhaupt nicht vorstellen, wer ihr ein Einschreiben geschickt haben könnte. Merkwürdig, dass man ihr die Benachrichtigung unter der Tür durchgeschoben hat. Hätte man sie wie üblich unten in den Briefkasten gesteckt, hätte sie sie nie angesehen. Sie bekommt keine Post. Öffnet keine Briefe. Wer sie kennt, weiß das. Es ist eine Art Phobie. Seit zwanzig Jahren vermeidet sie, Mitteilungen entgegenzunehmen. Seit ihrer Heirat landet alles, was mit der Post kommt, in Dimitris Händen. Er öffnet die Rechnungen und verteilt die Korrespondenz auf die Familienmitglieder. Annas Freunde kennen ihren Tick, deswegen schreiben sie ihr nicht, und sie hat nichts zu befürchten. Sie legt die Benachrichtigung auf den Tisch und bringt die Einkäufe in die Küche. Da sie allein ist, macht sie sich nur ein Sandwich mit dem Salat und dem Käse, den sie aus der Markthalle mitgebracht hat. Sie setzt sich an den Tisch und isst vor dem Fernseher. Es läuft eine Sendung mit Publikum, die sie sich selten ansieht. Eine unbedeutende Fernsehschauspielerin, deren Namen sie noch nie gehört hat, gibt eine bewegte Erklärung über einen jungen Mann ab, der vor zwei Jahren bei der Tragödie des Atom-U-Boots Kursk umgekommen ist. Der Matrose war ihre Jugendliebe. Die Schauspielerin ergeht sich in ihren Erinnerungen an den Toten. In ihrer Stimme klingt unverhohlen Opportunismus an, bemerkt Anna empört. Der Moderator ist ein dicker, blasser Mann im grauen Anzug mit rot-grün gestreifter Krawatte. Er fragt bis in die letzten Einzelheiten. Eine peinliche Szene. Schon allein die Erwähnung des U-Boots weckt in Anna automatisch Widerwillen. Sie schaltet um. In den Tagen gleich nach dem offenbar durch einen Defekt der Torpedoabschussanlage verursachten Unglück, als man noch nicht wusste, wie viele Mitglieder der in den Tiefen der Barentssee gefangenen, auf Rettung wartenden Besatzung die Explosion überlebt hatten, musste man ihr eines Nachmittags draußen auf der Straße, während sie den Newski-Prospekt entlanglief, Hilfe leisten, als sie Atemnot bekam, weil sie allzu lebhaft vor sich sah, wie die eingeschlossenen Matrosen und Offiziere allmählich erstickten, da die Luft in dem beschädigten U-Boot am Meeresboden Kilometer vor der unwirtlichen Nordküste knapper wurde. Die Vorstellung von den Matrosen, die im Heck des U-Bootes letzte Worte an ihre Angehörigen schrieben, von den toten Kameraden in einer hermetisch abgeriegelten Sektion getrennt, doch zum gleichen Schicksal verdammt, es sei denn, es geschah noch ein Wunder, quälte sie und verfolgte sie überallhin. Schon die Vorstellung genügte, um sie mitten auf der Straße bewusstlos werden zu lassen. In der Notfallklinik, wohin man sie brachte, konnte man nichts feststellen. Der Arzt, der sie untersuchte, versicherte ihr, sie sei nicht die Einzige, die in diesen schwierigen Tagen nervliche Symptome habe, und riet ihr, einen Psychiater aufzusuchen. Anna ging gekränkt nach Hause. Monatelang schaltete sie den Fernseher ab, wenn in den Nachrichten vom U-Boot die Rede war. Ebenfalls monatelang vermied sie es, Zeitung zu lesen. Und nun stellt sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie auch nach zwei Jahren noch nicht geheilt ist.
Sie schaltet weiter. Dann bleibt sie, eher aus Trägheit als absichtlich, bei einem Jugendsender hängen, der eine Wiederholung vom vergangenen Sommer zeigt. An einem Strand des finnischen Meerbusens ist eine riesige Bühne aufgebaut. Ein DJ bringt mit Trance Music die Menge am helllichten Tag dazu, in Badebekleidung zu tanzen. Der Moderator rennt auf der Bühne hektisch hin und her. Hin und wieder unterbricht er die Musik und heizt das Publikum mit neuen Ideen an. Er holt fünf Mädchen auf die Bühne, die sich um den Titel Miss Sommer bewerben. Alle fünf, im Bikini mit überquellenden Brüsten, ringen sich der Reihe nach nicht
Weitere Kostenlose Bücher