Dreihundert Brücken - Roman
du, so kannst du Mutter werden? Ja, glaubst du das?! Du kommst ja nicht mal von diesem Zeug los. Das fehlte gerade noch. Dass du jetzt das Kind kriegen willst.«
Tatjana fängt an zu weinen. Damit hat Maxim nicht gerechnet, er ist verwirrt.
»Hör auf.« Er schüttelt sie. »Hör auf zu heulen!«
Doch je mehr er sie schüttelt, damit sie aufhört, umso mehr weint sie, ohne Dramatik, nur leise schluchzend. Er lässt sie los und tritt zurück. Einen Moment sieht er sie noch an, wie sie da allein an der gelben Hauswand lehnt, dann dreht er sich um und verschwindet zwischen den Passanten.
8.
Halb acht Uhr abends
A ls Maxim die Tür öffnet, sitzen Anna, Dimitri und Roman schon beim Abendessen. Der Tisch ist für vier Personen gedeckt. Zwischen dem Vater an dem einen Kopfende und der Mutter am anderen Kopfende ist ein Platz für ihn vorgesehen. Stuhl, Glas, Teller und Besteck. Maxim geht wortlos in sein Zimmer, dann kurz ins Badezimmer, betätigt die Spülung, wäscht sich die Hände und setzt sich an den Tisch. Der Vater blickt nicht von seinem Teller auf, auch der Bruder nicht. Anna bringt es als Einzige nicht fertig, ihren Sohn nicht anzusehen. Er sieht schmaler und blasser aus, mit Ringen unter den Augen.
»Soll ich dir auflegen?«, fragt sie.
Zum ersten Mal, seit sie sich zum Essen hingesetzt haben, hebt Dimitri die Augen und richtet einen hasserfüllten Blick auf seine Frau, die aber beachtet ihn nicht. Sie ergreift den Teller ihres Sohnes und legt ihm Hähnchen mit Kartoffelsalat auf. Maxim ist weder in der Lage, seine Mutter anzusehen, noch, sich zu bedanken. Er nimmt den Teller entgegen und isst wortlos. Niemand spricht. Man hört nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern. Anna greift nach ihrem Wasserglas, als wollte sie trinken, fragt aber vorher ihren Sohn: »Willst du nichts trinken?«
Er schüttelt den Kopf.
»Tee? Wasser?«
Bevor er wieder den Kopf schütteln kann, hebt Dimitri den Blick und sieht ihn an.
»Antworte deiner Mutter.«
»Nein danke«, sagt Maxim.
»Wie lange, glaubst du, kannst du noch ohne Erklärungen verschwinden und kommen, wann es dir passt, weil du meinst, dass du mit offenen Armen empfangen wirst?«, fragt der Vater.
Maxim macht Anstalten aufzustehen, doch mit einer abrupten, für Anna und Roman überraschend heftigen Bewegung hält Dimitri ihn zurück.
»Ich spreche mit dir, und wenn ich spreche, hört man mir im Allgemeinen zu«, sagt er, Maxims Arm noch immer im Griff, und der Sohn hört erschrocken zu. »Du hast mein Vertrauen und meine Geduld missbraucht. Was machst du für ein Gesicht? Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche. Ich habe nur darauf gewartet, dass du nach Hause kommst, um mit dir zu reden.«
Dimitri führt ihn am Arm in sein Zimmer. Er knallt die Tür zu. Anna und Roman bleiben schweigend sitzen. Roman bringt es nicht fertig, den Kopf zu heben. Anna betrachtet ihren jüngeren Sohn, ringt sich ein Lächeln ab, als wäre nichts geschehen, dann steht sie auf und beginnt mit dem Abräumen.
»Hilfst du mir bitte?«
In Maxims Zimmer hält Dimitri seinen Sohn an beiden Armen fest, das Gesicht dicht vor seinem, so dass er ihm ins Gesicht spuckt, während er spricht.
»Weißt du eigentlich, worin meine Arbeit besteht? Hast du eine Ahnung, warum ich hiergeblieben bin, als alle anderen weggegangen sind? Ich hätte mit deiner Mutter nach New York gehen können, hätte bei einem meiner Kontaktleute in London arbeiten können oder woanders, weit weg von dieser Hölle, wenn ich keine Verpflichtungen hätte. An Gelegenheiten hat es nicht gefehlt, aber ich musste für den Unterhalt von einem Nichtsnutz wie dir sorgen. Leuten wie mir ist es zu verdanken, dass dieses Land noch besteht. Leuten wie mir ist es zu verdanken, dass wir noch nicht gänzlich in dem Dreck untergegangen sind, den wir mit unserer eigenen Scheiße und unseren eigenen Instinkten angerichtet haben. Ich bin der Polizist von diesem beschissenen Ort, der Typ, der den Kahn mitten im Unwetter am Pier festgehalten hat, als alle Leute nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich den besten Anteil zu sichern und sich vor dem Sturm zu retten, als jeder nur an sich gedacht hat. Und warum, glaubst du, bin ich geblieben? Weil ich ein Trottel bin? Weil ich nichts kann? Unfähig bin? Los, antworte mir. Du glaubst, ich weiß nicht, was du denkst? Vielleicht hast du sogar recht. Jedenfalls bin ich nicht weggegangen, weil dies das Land meiner Söhne ist. Was siehst du mich so an, verdammt! Du und
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