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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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erwecken, dass er seinen Großvater nach Hause begleitet. Wäre der Alte nicht weitergegangen, wäre durchaus denkbar, dass Andrej sich angeboten hätte, ihm mit seinen Einkaufstüten zu helfen. Der Zug fährt ein, die Türen öffnen sich. In dem Wagen, den er betritt, sitzt nur eine stark geschminkte Frau. Andrej setzt sich, ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, ihr gegenüber. Es ist wie ein Zwang. Er vermeidet es, allein zu sein. Als könnte die Gegenwart anderer Menschen von ihm ablenken. Die Frau ist gebrochen. Ihr schütteres, gebleichtes blondes Haar umhüllt kaum den ovalen Kopf und das ausgemergelte Gesicht mit schwarz verschmierten, wässrig blauen Augen und sehr schmalen, fast nicht vorhandenen, rot angemalten Lippen, als wäre der Lippenstift das blutige Überbleibsel einer genähten Platzwunde. Die Frau sieht ihn an. Andrej stellt sie sich glatzköpfig vor, kurz geschoren wie er, oder tot, mit geschlossenen Augen und eiskalten Händen. Er zieht die Kapuze zurecht, damit sie seinen Kopf besser verdeckt, und kauert sich zusammen. Die Frau wendet den Blick nicht ab. Jeden Augenblick kann sie etwas sagen. Doch als es so aussieht, als würde sie nun tatsächlich den nicht existierenden Mund, diesen roten Strich, aufmachen, springt er auf, bevor sie eine Frage stellen kann, und geht ganz grundlos an die Wagentür. Die nächste Station ist seine, bis dahin dauert es noch ein wenig, aber er will nichts von ihr hören. Er stellt sich möglichst nicht vor, was die Frau ihm zu sagen hat – oder ihn hätte fragen können.
    Und er stellt sich auch nichts weiter vor, als er sich draußen, die Kapuze über den gesenkten Kopf gezogen, zwischen denen, die am Tagesende auf den Trottoirs beim Wosstanja-Platz übrig geblieben sind – ein paar Betrunkene und Prostituierte –, wie eine Ratte zur Bushaltestelle hindurchschlängelt, wo er hätte aussteigen sollen, wenn er nicht entgegen der Anweisung des Feldwebels Krassin die Metro genommen hätte. Die Polizisten in der Umgebung der Station beschäftigen sich lieber damit, ausländische Touristen auszunehmen, die gerade, die Taschen voller Dollar, mit angeblich mangelhaften Visa mit dem Zug aus Moskau ankommen oder dorthin abfahren, anstatt ihre Zeit mit russischen Asozialen zu vergeuden, die sich ohne Geld in der Tasche abends in der Gegend herumtreiben und auf irgendeine Gelegenheit warten, doch der Feldwebel hat ihn ermahnt, trotzdem ständig auf der Hut zu sein. Im Krieg darf man sich keine Blöße geben, niemals. Wenn die Polizei sich scheinbar für anderes interessiert, muss man doppelt aufmerksam sein. Im Grunde muss er nur bis zur Bushaltestelle kommen. Er geht im Halbdunkel rasch weiter. Und plötzlich, in seine eigenen fliegenden Gedanken versunken, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er wieder zu den Wänden gesprochen hat, den Wänden der Häuser, und ohne zu wissen, was er gesagt hat – dass er es nicht mehr aushält, allein zu sein, es nicht eine Minute länger ertragen kann –, spürt er einen Schlag an der rechten Schulter und merkt, dass er mit einem Menschen oder einem Gegenstand zusammengestoßen ist. Der Stoß lässt Hass in ihm auflodern, reißt ihn aus dem lethargischen Zustand, in den er sich versetzt hat, um seinen Auftrag ohne größeren Gewissenskonflikt erfüllen zu können. Er macht ihn zu einem Kämpfer. Zum ersten Mal hebt er den Kopf und blickt sich um, zum Kampf bereit. Eigenartigerweise dreht auch die Gestalt sich um. Sekundenlang sehen die beiden sich an. Andrej erkennt seinen eigenen Hass und das Aufbegehren in den dunklen Augen des wie er brünetten Burschen. Aber auch die Angst und die Ohnmacht, die ihn dazu bringen, sich gegen seinen Willen hier zu befinden, genau wie im Krieg, weil er nicht woanders sein, weil er nicht aus seinem Körper heraustreten und ein anderer sein kann. Er erkennt wie in einem Spiegel, was in die Enge getriebene Tiere kurz vor dem Angriff empfinden, den Blick der Beute kurz vor dem Sprung. Das alles dauert nur eine Sekunde. Dann besinnt er sich, weswegen er hier ist, und vergisst den Fremden. Vergisst seinen Kampfgeist. Geht weiter. Dem Gesicht des Burschen nach zu urteilen, muss seine eigene Miene Besessenheit verraten haben. Als er sich der Bushaltestelle nähert, sieht er ein geparktes Auto, und es schaudert ihn. Er hat sich die Nummer gemerkt, die der Feldwebel ihm genannt hat. Kein Zweifel. Da steht das Auto. Und Andrej ist spät dran. Er geht schneller, beugt sich zum Beifahrerfenster hinunter

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