Dreihundert Brücken - Roman
damit würde er ja die ganze Angelegenheit gefährden. Die Anweisung kam vom Kunden persönlich, einem Offizier der Reserve, der nicht noch einmal in die peinliche Situation geraten wollte, einer Polizeistreife erklären zu müssen, warum er mitten in der Nacht im geparkten Auto in der Nähe der Kaserne saß, und den Polizisten, da ihnen seine Erklärung nicht genügte, auch noch Schmiergeld zahlen zu müssen, damit sie ihn nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Bestechung von Militärangehörigen oder einer anderen Straftat anzeigten. Nach den neuen Regeln muss nun der Rekrut dafür sorgen, dass er zum Treffpunkt kommt und mit dem Geld zur Kaserne zurückkehrt, solange die öffentlichen Verkehrsmittel in Betrieb sind. Andrej weiß, was ihn erwartet. Es ist das erste Mal, aber er kann es sich unschwer vorstellen. Er denkt lieber nicht darüber nach. Da der Bus nicht kommt, beschließt er, mit der Metro zu fahren; ein kleiner Akt des Ungehorsams. Was ihm noch an Entscheidungsfreiheit geblieben ist, erhöht zugleich die Bandbreite seiner Risiken. Er versucht sich zu beruhigen, damit ihm oben auf der Rolltreppe, die zum unterirdischen Bahnsteig führt, nicht schwindlig wird. Beim Anblick der auf- und absteigenden Stufen dreht sich ihm der Magen um. Keine Metro fährt so tief unter der Erde wie die von St. Petersburg. Sie wurde unter einem Sumpfgelände gebaut, in dem die Gebeine der Leibeigenen und Häftlinge ruhen, die einst die Fundamente der ehemaligen Hauptstadt schufen. Während er in die Tiefen hinunterfährt, begegnet sein Blick dem eines jungen Mannes – unrasiert und mit fettigem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar –, der auf der Rolltreppe nebenan nach oben in die frische Luft der Spätsommernacht fährt. Gäbe es Seelen, die aus sich bewegenden Körpern austreten könnten, würde er sein Knochengerüst allein, ahnungslos weiterfahren lassen, in den Körper des anderen auf der nach draußen führenden Rolltreppe nebenan eintreten und ein neues Leben anfangen, weit weg von der Kaserne. Manchmal denkt er, ein Mann mit Schneid hätte an seiner Stelle lieber noch einmal Prügel eingesteckt und dann mit etwas Glück eine Woche auf der Krankenstation verbracht. Doch das eine schließt das andere nicht aus. Im Regiment hat man keine Wahl. Der einzige Vorteil der Prügel wäre, das Bewusstsein zu verlieren, diese Last, die allmählich unerträglich wird – ach, wenn er es nur nicht wiedererlangen und in die Kaserne zurückkehren müsste, wo ihn neue Prügel und Strafen erwarten. Im Grunde kann Andrej Prügel einstecken, bis er umfällt, sogar wenn man ihn vorher gedemütigt hat. Es hat keinen Sinn, verstehen zu wollen, warum er allein deshalb, weil er ist, was er ist, nämlich ein einfacher Rekrut, etwas tun muss, was er nicht tun will. Es ist sein Ort und seine Zeit. Nicht er fährt da an Stelle des Burschen mit den fettigen Haaren die Rolltreppe hinauf. Er fährt hinunter zur Hölle. Er stellt sich möglichst nichts vor, damit ihm nicht schwindlig und übel wird. Er versucht sich einzureden, dass er lediglich einen Befehl ausführt. Damit er mit einer gewissen Unbeschwertheit weitermachen kann.
Um diese Zeit stehen keine Schlangen vor den Stahltüren, die sich auf beiden Seiten des Bahnsteigs reihen wie die Lifte in der Lobby eines Bürohochhauses und Zugang zu den Zügen gewähren. Die Berufstätigen sind bereits nach Hause gefahren, jetzt sind nur noch vereinzelte Leute unterwegs. Zumindest bis der nächste Zug aus Moskau oder den Badeorten eintrifft und in den größten Bahnhöfen der Stadt aus dem Urlaub heimkehrende, mit Koffern bepackte Familien absetzt, die sich dann wie eine Flutwelle in die städtischen Verkehrsadern ergießen. Vorläufig ist die Metrostation, die er betritt, noch leer. Er hätte sich jede beliebige Tür aussuchen können, doch stellt er sich ausgerechnet hinter den einzigen Fahrgast, der sich außer ihm auf dem Bahnsteig befindet, einen alten Mann mit Einkaufstüten in beiden Händen, der vor der zweiten Tür rechts wartet, dann, als er merkt, dass ein Rekrut hinter ihm steht, irgendetwas Unverständliches brummelt, was aber eindeutig mit Andrejs Anwesenheit zu tun hat, und weitergeht. Der Alte sucht sich eine andere Stahltür, vor der er allein warten kann. Andrejs Wahl verrät eine einfältige, kindliche Logik, als wäre das Risiko, dass er entlarvt und sein Auftrag von der Polizei aufgedeckt wird, in Begleitung des alten Mannes geringer, als wollte er den Eindruck
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