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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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wird noch genügend Zeit haben, Andrejs Vater zu benachrichtigen, denn an diesem Morgen hat sie ihn nicht erreicht. Sie hatte ihn vor zwanzig Jahren in Sotschi kennengelernt, wo sie in den Sommerferien in einer Hotelbar als Bedienung arbeitete. Er war Brasilianer, als politischer Flüchtling im Exil und zehn Jahre älter als sie. Er lebte in Moskau und machte am Schwarzen Meer Urlaub. Nach sechs Monaten waren sie verheiratet. Andrej kam im Jahr darauf zur Welt. Als der Sohn neun Jahre alt war, beschloss Alexandre, nach zwanzig Jahren in Russland nach Brasilien zurückzugehen. Das Chaos, das auf das Ende des Kommunismus folgte, war entweder nur ein Vorwand oder aber der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn Olga und er verstanden sich inzwischen nicht mehr. Die Not während der Jelzin-Jahre hatte ihre Beziehung aufgerieben. Alexandre verdiente mit seiner Arbeit als Botaniker an der Universität den Gegenwert von dreißig Dollar im Monat. Und wenn man es von der ideologischen Warte betrachtete, exis tierte auch nicht mehr das gleiche Regime, das ihn aufge nommen hatte und in dem er sich, vielleicht, weil er Ausländer war, viele Jahre lang einigermaßen beschützt gefühlt hatte. Als Olga sich weigerte, mit ihm nach Brasilien zu gehen, sagte Alexandre, nicht er verlasse sie, sondern sie ihn. Sie haben sich nie wiedergesehen. Jedes Jahr tauschten sie ein paar Worte, wenn er zum Geburtstag des Sohnes oder zu Weihnachten anrief. Sie blieb ein knappes Jahr allein. Dann lernte sie bei einer Cousine den Marinekapitän Nikolai Romanowitsch kennen. Als Nikolai nach Wladiwostok versetzt wurde, nahm sie ihren halbwüchsigen Sohn mit, und das war vielleicht ihr größter Fehler. Es wäre besser gewesen, den Jungen zu seinem Vater nach Brasilien zu schicken. Aber sie brachte es nicht fertig, sich von ihm zu trennen. Schon bald kam es zu Verstimmungen zwischen Stiefvater und Stiefsohn, und aus Angst und Unwissenheit hat Olga wohl die Partei ihres Mannes ergriffen, und sei es nur in Form von Schweigen und Passivität. Jetzt ist die Stunde gekommen, ihrem Sohn zu zeigen, dass sie noch immer seine Mutter ist und ihn liebt. Als sie Jewgenia ins Bett bringt, sagt Olga zu ihr, dass sie nach Moskau zu Onkel Fedja, ihrem älteren Bruder, fahren muss und dass die Nachbarin sich um sie kümmern wird, bis der Vater in einer Woche zurückkommt. Jewgenia fragt, ob Onkel Fedja krank ist, aber Olga antwortet nicht. Bevor sie am nächsten Tag mit der Tochter aus dem Haus geht, ruft sie in St. Petersburg an und vereinbart ein Treffen in Moskau acht Tage später. Sie bringt Jewgenia zur Schule, geht zum Bahnhof und kauft eine Hin- und Rückfahrkarte nach Moskau. Als sie aus dem Bahnhof herauskommt, zögert sie einen Moment, dann geht sie über die Straße und betritt die Post. Wieder ruft sie in Brasilien an, doch die Verbindung kommt nicht zustande. Sie will es in Moskau erneut versuchen.

14.
Die folgenden Nächte in
St. Petersburg (während Olga im Zug
von Wladiwostok nach Moskau reist)
    A ndrej kehrt an den Ort zurück, wo er am Abend zuvor bestohlen wurde. Er kommt unter dem unglaubwürdigen Vorwand zurück, er könne dort den Dieb wieder treffen und das Geld zurückbekommen. Diese unwahrscheinliche Annahme hat er sich zurechtgelegt, um sich einzureden, dass er dorthin zurückmuss. Er ist zum Töten bereit, um das Geld wiederzubekommen. Zumindest sagt er das zu den Wänden. Es fällt ihm schwer, dieses Bedürfnis zu benennen. Er ist um dieselbe Uhrzeit wie am Vortag dort, in der Hoffnung, der Dieb komme auch. Es ist eine Art kindliches, magisches Denken. Alles andere ist zweitrangig, angefangen bei der Demütigung. Er muss ihn finden, ungeachtet der Anweisungen der Frau, die ihn gerettet hat. Als sie ihm die Wohnungsschlüssel aushändigte, gab sie ihm zu verstehen, dass sie damit eine Abmachung trafen. Je weniger er aus dem Haus gehe, umso besser für sie beide, umso weniger Risiken gehe er ein, besonders abends. Aber er fürchtet sich tagsüber viel mehr davor, gesehen zu werden. Sie hat zu ihm gesagt, im Kühlschrank sei etwas zu essen, und sie werde einmal in der Woche den Proviant aufstocken, solange er bleibe und solange es nötig sei. Sie werde ihm auch Bücher zum Lesen bringen. Vorläufig habe er zur Unterhaltung den Fernseher und das, was noch im Regal stehe: die Geschichte der Sowjetunion in fünf Bänden, Väter und Söhne von Turgenjew, die gesammelten Werke von Tschechow sowie andere Klassiker der russischen

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