Dreihundert Brücken - Roman
beiden Körper stehen aneinandergepresst in einer dunklen Ecke, sie halten möglichst die Luft an, während der Polizist sich umsieht. Andrej spürt den Atem des anderen an seinem Hals und die Wärme seines keuchenden Brustkorbs. Der Atem riecht wie sein eigener, ganz genauso. Das Herz rast. Der Polizist geht, er hat nichts gefunden. Die beiden Körper wagen sich zu bewegen, verharren aber sicherheitshalber noch ein paar Augenblicke an ihrem Platz. Ihr Atem beruhigt sich, findet zu einem gemeinsamen Rhythmus, als wären sie ein und dieselbe Person. Andrej lässt sich von dem Gleichklang tragen. Als er sich besinnt, dass er sich in den Armen des Taschendiebes befindet, reißt er sich in plötzlichem Aufbegehren frei. Der Mann leistet keinen Widerstand. Und zum zweiten Mal an diesem Abend sehen sich die beiden im Schein des Vollmonds an. Und Andrej erkennt im Halbdunkel das Funkeln der dunklen Augen, in denen sich das Licht des Mondes spiegelt, der aus einer Wolkenlücke scheint, bevor er wieder verschwindet.
»Gib mir das Geld zurück.«
»Welches Geld?«
Andrej stürzt sich auf den anderen, doch bevor er ihn packen kann, trifft ihn ein Schlag in die Magengrube. Die Luft bleibt ihm weg. Er krümmt sich vor Schmerzen. Es dauert ein paar Sekunden, bis er aufstehen und wieder hinter dem Dieb herlaufen kann. Er sieht noch auf der Straße, wie er in die Metrostation Ligowski-Prospekt läuft. Inzwischen denkt er nicht mehr an die Polizei. Ziemlich furchtlos für einen Rekruten, der Stunden zuvor ermahnt wurde, kein Aufsehen zu erregen, springt er über das Drehkreuz und rennt die Rolltreppe hinunter. Die Kapuze ist ihm inzwischen vom Kopf gerutscht. Zu seinem Glück ist um diese Zeit das Kontrollhäuschen unten nicht besetzt. Keine Aufpasserin ist da, die ihn barsch anfahren und den Alarmknopf betätigen würde. Noch auf der Rolltreppe hört er die Bremsen des in die Station einfahrenden Zuges quietschen und die Türen sich öffnen. Als er den Bahnsteig erreicht, schließen sie sich gerade. Der Dieb ist weg. Er fühlt sich beobachtet, obwohl sich außer ihm niemand mehr auf dem Bahnsteig befindet, der so menschenleer in dem gelblichen Licht an ein Labor erinnert. Er lässt die Arme sinken und den Kopf hängen. Und erst als er wieder aufblickt, sieht er die Videokamera in einer Ecke an der Decke. Jetzt gilt es, schnell nachzudenken. Doch stattdessen spricht er erneut zu den Wänden. Ungefähr so: »Ich muss einen Platz finden, wo ich bis morgen bleiben kann. Ich kann nicht in die Kaserne zurück. Wenn die Polizei mich um diese Zeit draußen schnappt, bin ich ein toter Mann«, sagt er, während er zur Rolltreppe geht.
»Ich kann nicht ohne das Geld zurückkommen«, antwortet er selbst, als hätten die Wände ihn gefragt: »Und morgen früh? Was willst du dann machen? In die Kaserne zurückgehen?«
»Nein«, antwortet er, als hätten die Wände gefragt: »Und wenn du das Geld bekommen hättest, wärst du dann in die Kaserne zurückgegangen?«
12.
Morgens
V on einem dunklen Hauseingang aus beobachtet Andrej, wie die Frau die morsche Tür auf der anderen Straßenseite öffnet. Es ist noch früh, und seine vor Müdigkeit geröteten Augen sehen keinen anderen Menschen auf der Straße. Er ist seit fünf Uhr morgens dort. Um halb sechs sind zwei Polizisten auf ihrem Streifengang an dem Gebäude vorbeigekommen. Und um halb acht ist endlich die dicke rotblonde Frau erschienen. Er hat sie auf dem Trottoir kommen sehen, zwei Mappen unter dem Arm. Er hat gesehen, welche Mühe sie hatte, die Holztür zu öffnen und dabei die Mappen festzuhalten. Weshalb sie die Tür halb offen stehen ließ. Man kann erkennen, wie schummerig und düster das Licht im Inneren ist, und dem Rekruten kommen Bedenken, was ihn wohl erwartet, ob er dort seine Rettung findet oder in eine Falle gerät. Er zieht sich die Kapuze über den Kopf, wie der Feldwebel ihn ermahnt hat, als er am Tag zuvor die Kaserne verließ. Er will nicht von den Polizisten erkannt werden, die überall in der Stadt unterwegs sind, so wie die beiden, die am Morgen vor dem Gebäude Streife gegangen sind, in dem sich das Büro der Soldatenmütter befindet. Inzwischen ist man bestimmt schon hinter ihm her. Und dies ist einer der Orte, wo man am ehesten nach ihm suchen wird. Wenn man ihn dieses Haus betreten sieht, wird man keinen Zweifel mehr daran haben, wer er ist. Andrej hat überlegt, um den Häuserblock zu gehen, falls Menschen auf der Straße sind. Den besten Moment abzupassen,
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