Dreihundert Brücken - Roman
Jahr hat sie die Papiere, nach denen die Frau aus Petersburg jetzt fragt, insgeheim herausgesucht und vorsichtshalber versteckt, für den Fall, dass sie sie irgendwann brauchen wird. Das Schlimmste ist, zuzugeben, dass ihr Sohn sich nicht an sie gewandt hat, sondern an eine Fremde, weil er geglaubt hat, es würde nichts nützen, sich an die Mutter zu wenden, denn sie würde nichts unternehmen – und sich im Gespräch mit einer Frau, die sie noch nie gesehen hat, bewusst zu machen, welches Bild ihr Sohn von ihr hat, von ihrer Feigheit. Noch bevor Olga dem Gefühl Ausdruck geben kann, dass sie als Mutter versagt habe, kommt ihr die Frau am anderen Ende der Leitung zuvor und versichert ihr, so sei es mit allen. Sie lügt aus Mitgefühl. Stellt sich vor, wie Olga leidet. Sie hat Erfahrung. Normalerweise bitten die Rekruten ihre Mutter um Hilfe, und die übernimmt es dann, mit dem Komitee Kontakt aufzunehmen. Fälle wie Andrej sind die Ausnahme. Sie kommen bei Rekruten vor, die familiäre Probleme haben – oder Waisen sind. Aber das sagt die Frau aus Petersburg aus Rücksichtnahme nicht. Olga verspricht, die Papiere zu suchen. Sie will zurückrufen, sobald sie die Dokumente in der Hand hat. Sie bittet ihre Tochter um einen Stift. Schreibt sich die Telefonnummer auf und steckt den Zettel in die Tasche. Dann legt sie auf. Jewgenia sitzt noch immer neben ihr, die Hände auf den Knien, für die Schule fertig angezogen. Sie fragt, was los ist, ob mit ihrem Bruder etwas passiert sei.
»Nein, alles in Ordnung«, sagt Olga, holt dann aber den Zettel heraus, auf dem sie gerade die Telefonnummer notiert hat, und sieht sich die Zahlenfolge genau an, um sie sich einzuprägen. »Komm jetzt. Wir sind schon zu spät dran.«
Olga liefert Jewgenia in der Schule ab und geht zur Post in der Verkhne-Portovaja-Straße gegenüber vom Bahnhof, um ein internationales Ferngespräch zu führen. In der Kabine unterstreicht sie mit vielen Handbewegungen ihre Bemühungen, sich in ihrem mangelhaften Portugiesisch verständlich zu machen. Sie kennt zwei oder drei Floskeln, doch auch die benutzt sie nie. Sie fängt lieber gleich mit dem Schwierigsten an. Ihr Mann soll nicht wissen, dass sie in Brasilien angerufen hat. Deshalb muss sie eine Telefonzelle benutzen. Danach will sie von zu Hause beim Konsulat in Moskau anrufen. So oder so muss sie bis zum Nachmittag warten, um das Konsulat während der dortigen Öffnungszeiten zu er reichen. Zum Glück ist Nikolai Romanowitsch unterwegs, auf hoher See. Er sagt nie, worin seine Arbeit besteht, und Olga fragt auch nicht nach, als interessierte es sie nicht. Erst kürzlich, als sie hörte, dass in den Straßen von Wladiwostok ein Mann verhaftet worden ist, weil er dagegen protestierte, dass die russische Marine im Japanischen Meer Atommüll entsorgt, kam ihr der erste Verdacht, dass die Einsätze ihres Mannes sich nicht auf den Seedienst und die üblichen Manöver beschränken. Nikolai war es, der verhindert hatte, dass Andrej vom Militärdienst befreit wurde, als sie schon das ärztliche Attest besorgt hatte, was nicht weiter schwierig war bei einem etwas eigenartigen Jungen wie ihm, der zu den Wänden sprach. Nikolai sagte, so ein Attest sei gegen seine Prinzipien, und da Alexandre nicht da sei, werde er an seiner Stelle wie ein Vater handeln. Bei einer der Streitereien, die sie hatten, nachdem Andrej ausgezogen war und sich nicht mehr bei ihr meldete und Olga glaubte, ihre Ehe hänge an einem seidenen Faden, hatte Nikolai gesagt: »Der Militärdienst ist notwendig. Er härtet die Leute ab und stählt den Charakter. Ein Mann überlebt Russland nicht, wenn er nicht beim Militär war. Ich tue das für ihn, nicht gegen ihn.« Und das war nun das Ergebnis des Starrsinns dieses Mannes, dem sie die letzten elf Jahre ihres Lebens gewidmet hatte, ohne ihm zu widersprechen. Nikolai hatte seinen Stiefsohn gezwungen, den Militärdienst zu absolvieren. Und nun, weil sie sich dem Willen ihres Mannes gebeugt und den Sohn hat abreisen lassen, muss sie die halbe Welt in Bewegung setzen, um ihn zu retten.
Am Nachmittag ruft Olga beim brasilianischen Konsulat in Moskau an und informiert sich, welche Papiere benötigt werden. Sie hat alles parat. Die Papiere liegen ganz hinten in einem Schrank. Der erste Schritt am nächsten Tag wird ein Anruf bei der Frau in St. Petersburg sein, mit der sie am Morgen gesprochen hat, und dann muss sie eine Fahrkarte für den Zug kaufen. Die Fahrt nach Moskau wird eine Woche dauern. Sie
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