Dreihundert Brücken - Roman
Literatur, dazu ein Haufen alter Schallplatten, die sie nicht mehr hören könne.
Tagsüber liest Andrej noch einmal Hadschi Murat , in der Schule seine Lieblingslektüre. Und als es dunkel wird, überkommt ihn das zwanghafte Bedürfnis, an den Ort zurückzugehen, wo er bestohlen wurde. Er kann an nichts anderes denken. Er liest zehnmal denselben Satz, schlägt das Buch zu, zieht sein Sweatshirt über und verlässt die Wohnung. In der Metro denkt er an seine Mutter und seine Schwester, als wäre er auf dem Weg zu einer blutigen Schlacht. Er schlendert durch die Straßen in der Umgebung des Bahnhofs, sieht den Nachtzug nach Moskau abfahren, erkundet Torwege, Innenhöfe, Gassen, riskiert mehr, als er sollte, die Kapuze immer über den Kopf gezogen. Er geht die Orte ab, an denen er am Abend zuvor war, als suchte er nach etwas, das er dort irgendwo verloren hat. Er mustert Gestalten, was er nun gar nicht tun sollte, wenn er nicht erkannt und denunziert werden will. Er versucht die dunklen Augen in den Augen eines anderen wiederzuerkennen, der wie er um diese Zeit durch die Straßen rund um den Bahnhof streift und nach dem sucht, was auch er am Vortag verloren hat. Aber es ist niemand da. Drei Abende nacheinander kehrt Andrej an dieselben Orte zurück, dreht seine Runden immer schneller, angetrieben von dem Wissen (und als liefe er gleichzeitig davor weg), dass das Schicksal ihn mit einer Verspätung von Sekunden ebenjenen Ort entdecken lassen kann, an dem der Dieb, auf einem ähnlichen Rundgang wie er und ebenfalls befeuert von dem Wunsch, ihn wiederzusehen, gerade vorbeigekommen ist. Und so beendet er die Abende mit hektischem Gerenne, besessen von dem Gedanken, eine Begegnung verpasst zu haben. Drei Abende nacheinander legt er dieselben Wege zurück. Die Suche wird zu einer Sucht. Er verfolgt seinen eigenen Schatten. Er würde bis tief in die Nacht weitersuchen, wenn er nicht die letzte Metro nehmen müsste.
Am vierten Abend, als es schon ziemlich spät ist und die Aussicht auf eine neuerliche Enttäuschung ihn immer weiter vorantreibt, immer drängender auf das stößt, was kein Ende nimmt und ihm keine Ruhe lässt, kommt er gerade an der Bushaltestelle vorbei, als der Soldat Korsakow, nur ein Jahr älter als er – der ihn in der Kaserne so gequält hat mit Anspielungen, Denunziationen und Drohungen –, aus einem Auto aussteigt so wie er selbst vor vier Abenden. Andrej geht genau in dem Augenblick an der Bushaltestelle vorbei, als Korsakow die Geldscheine, die er für seine Dienste an einem Kunden erhalten hat, zusammenfaltet, um sie in die Tasche zu stecken, was er vier Tage zuvor auch getan hätte, wenn er nicht bestohlen worden wäre. Das Geld der Prostitution für den Unterhalt der russischen Armee. Doch ungeachtet aller Indizien dauert es, bis Andrej begreift oder zu begreifen bereit ist, was Korsakow hier macht. Es ist eine Art Selbstbetrug. Ihre Blicke begegnen sich. Der Soldat sieht ihn. Andrej erkennt in dessen Blick die gleiche Verletzlichkeit, die der Dieb vier Tage zuvor in seinem eigenen Blick gesehen haben muss, und begreift, dass er jetzt genau wie der Taschendieb den Soldaten Korsakow bestehlen könnte. Das wäre seine Rache. Andrej hat die Stelle des Räubers eingenommen. Er erkennt, wie verletzlich der Soldat ist, der sich an sein Geld klammert. Er selbst hat sich lange mit dem Gedanken herumgeschlagen, man habe ihm diesen Auftrag, den er nicht zu Ende führen konnte, nur deswegen erteilt, weil man in ihm ein Verlangen erkannt habe, weil er dafür gemacht sei. Über Korsakow hingegen schwebte offensichtlich keinerlei Zweifel. Im Gegenteil, der Soldat hat ihn gepiesackt, seit er einen Fuß in die Kaserne gesetzt hatte, und sich mit den Stärkeren gegen ihn verbündet. Einen Moment lang denkt Andrej an den Gott seiner Mutter. Er glaubt an seine Existenz und dass seine Stunde naht. Erst dann kommt ihm der Verdacht, dass Korsakow ihn vielleicht nur deshalb gepeinigt hat, weil er dieses Verlangen auch bei sich selbst verspürte – und sich davon distanzieren wollte. Dass er sich jetzt nur noch Frieden wünscht. Reine Träumerei, wie ihm schnell klar wird, denn obwohl sie beide gezwungen wurden, das Gleiche zu tun, und die gleiche Demütigung erfahren haben, ist nur Korsakow beschämt – vielleicht weniger wegen dieses Abends als wegen all der Quälereien, Andeutungen und Drohungen, denen er Andrej in der Kaserne ausgesetzt hat, in dem Glauben, wenn er sich mit den Vorgesetzten verbünde, bliebe ihm
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