Dreihundert Brücken - Roman
das Schicksal der Untergebenen erspart. Von nun an wird sein Leben sich auf diese Demütigung reduzieren, deren Zeuge der Rekrut geworden ist, es wird sich daran ausrichten und ebenso sein Tod zwei Jahre später. Andrej möchte Korsakow etwas sagen, was er selbst noch nicht ganz begriffen hat, auch wenn er es inzwischen ziemlich deutlich intuitiv erfasst hat: dass es immer jemanden geben wird, der bereit ist, Verletzlichkeit zu erkennen und anzugreifen, wo immer sie sich offenbart – und ganz besonders in dieser Stadt. Er möchte dem Soldaten sagen (sagt es aber nicht, hat es selbst noch nicht vollständig begriffen), dass er erst dann nicht mehr verletzlich sein wird, wenn er nichts mehr zu verlieren hat. Solange er etwas zu verlieren hat, ganz gleich, was, werden sie ihn weiter verfolgen. Sie werden ihn verfolgen, bis er nichts mehr hat, möchte er sagen, doch der Satz hat noch keine Form angenommen in seinem Mund (so wie im nicht vorhandenen Mund der gebrochenen Frau in der Metro am ersten Abend): Sie werden keine Ruhe geben, solange du etwas zu verlieren hast. Das Recht auf Leben wirst du erst erwerben, wenn du alles verloren hast, denkt er still bei Korsakows Anblick. Das Recht auf Leben heißt hier auch das Recht auf Vergeltung, den anderen zu nehmen, was sie noch haben – oder zu haben glauben. Dass Andrej nichts sagt, liegt daran, dass er es noch zu sich selbst sagt und sich bemüht zu begreifen. Korsakow dreht sich um und verschwindet die Straße hinunter, zu Fuß, und er bleibt mit einem widersprüchlichen Gefühl von Gerechtigkeit, Freiheit und Traurigkeit zurück.
Als Andrej am fünften Abend an den Tatort zurückkehrt und wie an den Abenden zuvor nach dem Dieb sucht, in denselben Gassen und Torwegen, durch die er ihn verfolgt hat, um sein Geld zurückzubekommen, tut er es jedoch mit einem aufkeimenden neuen Bewusstsein: Er kehrt zurück, um erneut zu verlieren, immer noch ein wenig mehr zu verlieren. Jetzt weiß er, dass er ihn nur finden wird, wenn er nichts mehr zu verlieren hat. Während er sich weiter vom Ligowski-Prospekt entfernt, vorbei an der Metrostation, wo er den Dieb am ersten Abend zum letzten Mal gesehen hat, bemerkt er kleine Gruppen von Pärchen in seinem Alter oder vereinzelte junge Leute, die sich alle in dieselbe Richtung bewegen. Getrieben von einem diffusen Verlustgefühl, folgt er ihnen, als gehörte er dazu, eher um sich unter die zu mischen, die einen anderen Grund haben, um diese Zeit draußen un terwegs zu sein, als aus der Vermutung heraus, sie könnten ihn zu irgendeinem bestimmten Ort bringen. Vor einer Tür, die zu einem Kellergeschoss führt, einem ehemaligen Luftschutzkeller hinter den Häusern, steht eine kleine Schlange. Andrej stellt sich an, doch erst als der Mann am Eingang den Eintritt von ihm verlangt, wird ihm klar, dass man bezahlen muss. Reflexartig greift er in die Tasche, dabei weiß er, dass sie leer ist. Der Junge, der gleich hinter ihm steht, merkt, dass er kein Geld hat, tritt vor und bezahlt für ihn, bevor der Türsteher unangenehm werden kann. Der Junge lächelt Andrej an und sagt etwas, das Andrej nicht versteht. Trotzdem bedankt er sich. Sie gehen gemeinsam hinein, trennen sich aber gleich. Der Kellerraum ist erdrückend, dunkel und eng, mit niedriger Decke und blauen Neonlampen, man sieht die Gesichter der Handvoll junger Leute kaum, die an der Theke trinken oder träge vor einem kleinen Podest tanzen, wo auf einem Stuhl einer mit Spitzbart und tätowiertem Arm sitzt, Gitarre spielt und ein schräges Lied singt, begleitet von einer Band. Andrej fühlt sich in diesem umgewidmeten Bunker wie verloren. Der Bursche, der für ihn den Eintritt bezahlt hat, kommt zu ihm und will ihm ein Getränk spendieren. Andrej lehnt höflich ab, aber der andere lässt nicht locker. Sie gehen an die Bar. Beim dritten Glas verrät Andrej ihm, dass er desertiert ist, und der Junge streicht ihm über die Brust, sagt ihm mit warmem Atem etwas ins Ohr. Wieder versteht er nichts. Der Junge verschwindet. Andrej hat das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen schwankt. Er denkt, das läge an der Beleuchtung. Er will hinaus, findet aber die Tür nicht. Die Paare tanzen, der Sänger trifft den Ton nicht. Die Musik tut ihm in den Ohren weh. Er will nur weg. Er sagt das zu dem Jungen, dem er vor der Toilettentür wieder begegnet. Der Junge erwidert, es sei noch früh, und streichelt ihm die Wange. Andrej schubst ihn zurück. Der Junge verliert das Gleichgewicht und stößt
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