Dreihundert Brücken - Roman
der regungslos draußen vor dem Haus steht, Sweatshirt und Hemd voller Blutflecken.
»Was ist los? Hast du noch nicht kapiert, dass du abhauen sollst?«
»Ich kann nicht ohne das Geld zurück.«
Andrej wundert sich selbst darüber, was dann als Nächstes aus seinem Mund kommt.
»Ich habe keine Bleibe.«
Sie sehen sich an, doch der Dieb hält seinen Blick nicht länger als ein paar Sekunden aus. Andrej läuft das Blut über die Stirn. Er bietet einen jämmerlichen Anblick. Der Dieb sieht weg.
»Verschwinde.«
»Ich kann nicht.«
Der Dieb kommt die Treppe herunter, aus dem Haus heraus und packt ihn am Kragen.
»Wovor läufst du weg?«
Andrej antwortet nicht.
»Warum hast du nicht die Polizei gerufen?«
Andrej antwortet nicht.
»Du bist desertiert, stimmt’s?«
Andrej antwortet nicht. Der Dieb sieht ihn an.
»Hast Angst vorm Krieg, wie alle. Ihr habt alle Angst vorm Krieg«, sagt der Dieb. »Und ihr tut alles, damit man euch nicht in den Krieg schickt. «
»Ich kann nicht ohne das Geld zurück. Ich bleibe bis morgen hier. Wenn die Polizei mich um diese Zeit auf der Straße schnappt, bin ich ein toter Mann«, sagt Andrej wieder, als spräche er zu den Wänden.
»Und morgen? Was machst du dann?«
Andrej antwortet nicht.
»Wo gehst du dann hin?«
Andrej antwortet nicht.
»Zurück in die Kaserne?«
Andrej antwortet nicht.
»Macht die Hölle süchtig? Wenn ich dir das Geld zurückgäbe, würdest du dann wieder in die Kaserne gehen?«
Andrej zögert.
»Nein.«
Andrej wacht am nächsten Morgen von den ersten Sonnenstrahlen auf. In seinem Kopf hämmert es. Er sitzt auf derselben Treppe in dem Hauseingang, an das Eisengeländer gelehnt. Er zieht sich mühsam am Handlauf hoch, bis er steht, und wankt wie ein Invalide zur Metrostation. Erst als er in der Wohnung in der Petrogradskaja-Storona-Straße vor dem Badezimmerspiegel steht, nimmt er das Pflaster auf der Stirn wahr und das Hemd, das er unter dem Sweatshirt trägt. Es ist nicht dasselbe wie am Vortag. Es ist nicht sein Hemd. Und es hat keine Blutflecken.
Am sechsten Abend – inzwischen besteht sein Leben nur noch darin, in dieser Verfolgung, und sie ist entscheidend für sein Überleben –, als er sich nach stundenlangem Herumlungern rund um den Wosstanja-Platz schon darauf einstellt, nach Hause zu fahren, sieht er ihn endlich. Von weitem beobachtet er den Taschendieb, der seinerseits ein Touristenpaar beschattet, das gerade auf der Seite gegenüber der Metrostation aus einem Bus ausgestiegen ist. Dort kommen die Reisenden aus Finnland an. Andrej bemerkt, wie er seine Opfer aussucht, sich dabei nicht unbedingt an der voraussichtlichen Beute orientiert, sondern am Grad ihrer Verletzlichkeit, den er selbst in diesen wenigen Tagen einzuschätzen gelernt hat. Seine Lehre begann an dem Abend, als er bestohlen wurde, was viel über seine Selbsterkenntnis aussagt, auch wenn er dies noch nicht so deutlich sieht. Der Dieb projiziert seine eigene Angst auf die Opfer. Und tritt nur in Aktion, wenn er sich in ihnen erkennt. Das frisch angekommene Paar steht so allein und hilflos da, wie es nur sein kann. Und das allein rechtfertigt die Wahl des Diebes. Es sind junge Rucksackreisende, vermutlich haben sie keine Wertsachen bei sich, überlegt Andrej, also ist der Taschendieb wohl nicht nur hinter Geld her. Das Pärchen geht den Gretscheski-Prospekt entlang, um diese späte Abendstunde menschenleer und schlecht beleuchtet. Sie suchen ein kleines Hotel in einer Seitenstraße. Alle Straßen heißen gleich (Sowjetskaja, Überbleibsel einer Vergangenheit, die trotz aller Bemühungen, sie zu vergessen, immer noch über der Stadt schwebt) und unterscheiden sich lediglich durch die Nummern (II, III, IV …), weshalb das Paar schon bald verwirrt ist und sich verläuft. Der Dieb wartet auf den richtigen Moment zum Handeln. Dabei ist ihm nicht bewusst, dass er nicht der Einzige ist, der ihnen seit dem Bahnhofsplatz folgt. Auch Andrej ist überrascht, als er feststellt, dass sich zwischen dem Taschendieb und ihm noch jemand befindet. Ein Polizist, der den Dieb wahrscheinlich schon beobachtet, seit dieser seine Opfer unter den aus dem Bus ausgestiegenen Touristen herausgepickt hat. Andrej gerät in Panik, als beträfe das Risiko, dass der Taschendieb gefasst wird, ihn ganz persönlich und zerstörte ein für alle Mal den inzwischen sowieso unrealistischen Traum, das gestohlene Geld zurückzubekommen. Zumindest versucht er sich so seine Ängste zu erklären. Der Polizist
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