Dreihundert Brücken - Roman
winzig klein. Zu zweit kann man sie für vieles halten, nur nicht für das, was sie sind. Und merkwürdigerweise, wie sie beide bald feststellen werden, bewahrt sie die Tatsache, dass sie zu zweit sind, vor Schwierigkeiten. Seit sie gemeinsam durch die Straßen des Zentrums laufen, sind sie gleichsam gefeit, wie in einer Parallelwelt. Sie bewegen sich in einer Realität, zu der jene keinen Zugang haben, die sie fraglos anbetteln oder bedrohen würden, wenn sie allein unterwegs wären. Dieses Gefühl erreicht seinen Höhepunkt, als sie die alten, von der Marine aufgegebenen Werften auf der kleinen Insel Neu-Holland im Herzen der Stadt betreten – und merkwürdigerweise versetzt sie allein schon der Name an einen fernen Ort. Die einzige Brücke, über die man auf die Insel gelangt, ist Tag und Nacht bewacht. Der Dieb kennt eine Möglichkeit, die Wachen über einen zweiten Zugang zu umgehen, doch dazu müssen sie den Wasserlauf überqueren. Dort befindet sich das Versteck, von dem er gesprochen hat, ihr Ziel in dieser Nacht. Auf der Insel sind sie in Sicherheit, verspricht er, dort können sie in Ruhe schlafen. Was dort geschieht, interessiert die Obrigkeit nicht und gehorcht eigenen Gesetzen. Es sind nur Ruinen. Er sucht nach einem Boot, mit dem sie übersetzen können. Und entdeckt einen Kahn, der an der Steinböschung der Moika festgemacht ist, darin eine Gestalt, die vor sich hinbrummelt. Es ist ein alter bärtiger Mann.
»Warte, ich rede mit ihm«, sagt der Dieb zum Rekruten.
»Die Gesetze in Russland sind gut. Nur schade, dass die Russen sich nicht daran halten«, klagt der Alte, als der Dieb ihm zehn Dollar für die Überfahrt bietet.
Er bezahlt mit einem Schein aus einem Diebstahl. Der Alte will wissen, woher das Geld stammt. Er hat den Verdacht, die Dollars könnten Touristen gestohlen worden sein.
»Die gehören mir. Er hat mich bestohlen«, sagt Andrej, um den Alten zu beruhigen, in so selbstverständlichem Ton, dass der Taschendieb staunt.
Durch den Stab, mit dem der Alte das Boot von der Steinmauer abstößt, hat er etwas von einem Propheten. Er lebt auf der Moika, seit er Rentner ist. Die Frau ist gestorben, und die Kinder haben ihn verlassen.
Im Schein des abnehmenden Mondes am Sternenhimmel überqueren sie den Fluss.
»Noch so eine Nacht, und wir müssen alles, was Klima und Geographie angeht, neu überdenken. Wo sind die Wolken und der Nebel geblieben? In Zukunft werde ich mich an den Sternen orientierten, so wie in den Tropen«, knurrt der Alte, während er sie über das ruhige, stille Wasser fährt.
Es ist, als überquerten sie den Ozean. Die wenigen Meter kommen einer langen Reise gleich, denn der Bootsführer redet ohne Unterlass. Im Dunkeln ist der Wasserlauf kaum auszumachen, sie gleiten auf einer unsichtbaren Bahn zwischen Mauer und Bäumen dahin, die sie ins Innere der ummauerten Insel führt. Der Alte hält das Boot an, bevor sie das mit Beton eingefasste Becken erreichen, in dem man zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vergeblich versuchte, ein unsinkbares Kriegsschiff zu bauen.
»Alles geht unter«, sagt der Bootsführer, als er sie im flüssigen Herzen der Insel absetzt.
Der Rekrut und der Taschendieb gehen über einen, wie es scheint, ehemaligen Anleger an Land, von dem lediglich die Steinstufen übrig sind, dazwischen wuchert Unkraut. Erst als sie die Stufen hinaufgehen, wird Andrej klar, dass das Becken, von dem der Alte gesprochen hat, eine Art See mit betoniertem Ufer ist, umringt von aufgelassenen Lagerschuppen, mitten in der Insel und der Stadt. Die beiden schleichen verstohlen zu einem Schuppen. Es ist ein Ziegelschuppen mit geborstenen Fenstern und verrostetem Dach. Der Dieb stößt die Eisentür auf. Ratten flüchten in die Ecken.
»Was ist das hier?«
Der Dieb merkt, das Andrej sich fürchtet.
»Ist es hier nicht gefährlich?« Andrej zögert, ob er hineingehen soll.
»Ein Polizist hat mich hergeführt. Er hat mich beim Klauen erwischt. Wir haben uns geeinigt. Das Geld geteilt.«
»Er hätte nicht mit dir verhandeln müssen. Er hätte das Geld behalten und dich in den Knast stecken können.«
Der Dieb sieht Andrej in der Dunkelheit an.
»Ich hab ihm gefallen.«
Beschämt und verärgert wendet Andrej den Blick ab, weil er nicht gleich begriffen hat, dass der Dieb nicht die Wahrheit sagt und dass auch seine Antwort eine Provokation ist.
»Es erinnert mich an meine Stadt«, sagt der Dieb, inzwischen im Inneren des verfallenen Gebäudes.
»Warum gehst du nicht
Weitere Kostenlose Bücher