Dreihundert Brücken - Roman
Ich nehm dich mit zu einem Versteck. Dann sind wir quitt, und du vergisst mich.«
»Du schuldest mir noch, was du mir geklaut hast.«
»Das hier ist wirklich nicht der richtige Ort, um Rechnungen zu begleichen. Wenn du hierbleibst, schnappen sie dich. Ich weiß eine Stelle, falls man uns nicht unterwegs aufgreift. Um diese Zeit fährt keine Metro mehr. Wir müssen uns auf unser Glück verlassen. Und wir befinden uns auf feindlichem Gebiet.«
Er verwendet Kriegsvokabular. Um diese Zeit ist für sie beide das gesamte Stadtzentrum feindliches Gebiet. Nichts einfacher, als schon von weitem zwei einsame Gestalten an den Ufern der Newa, der Fontanka oder der Moika, auf den breiten Avenuen oder den weiten Plätzen im Zentrum von St. Petersburg auszumachen. Die Stadt wurde nach der Logik der totalen Sichtbarkeit erbaut. Dort, wo sie sich befinden, gibt es, anders als in den Gassen längs der Bahnlinie und den Wohnhäusern mit ihren Innenlabyrinthen in der Umgebung des Wosstanja-Platzes, nur Paläste mit unüberwindbaren Fassaden und goldenen Salons, die meisten verfallen, in denen sich in der Vergangenheit Adlige und Reiche hinter verspiegelten Wänden vor der Sichtbarkeit der Straßen schützten. Die breiten Avenuen heißen Prospekte. Sie wurden für militärische Paraden und Demonstrationen der Macht angelegt. Ob der Zar, der Sowjetstaat oder die russische Polizei den Marsch kommandiert, spielt keine Rolle. Nirgends kann man sich verstecken oder Zuflucht suchen. Die Stadt wurde so erbaut, dass niemand entwischen kann.
»Komm!«
Sie gehen so, als könnte sich jeden Augenblick ein Scheinwerfer auf sie richten, wie zwei Verdächtige, die spätnachts am Fuß der Mauer einer uneinnehmbaren Festung entlangschleichen. Sie versuchen die Hauptstraßen zu meiden, trotzdem ist es unmöglich, nicht gesehen zu werden. Die Straßen sind vollkommen menschenleer. Andrej denkt an eine berühmte Erzählung, die er in der Schule gelesen hat, in der ein kleiner Beamter, eifersüchtig um seinen kürzlich von den kargen Ersparnissen erstandenen Mantel besorgt, vor lauter Angst die Augen zumacht, weil er nachts einen menschenleeren Platz in St. Petersburg überqueren muss, und dann trotzdem überfallen und zusammengeschlagen wird auf der riesigen freien Fläche, wo alle, wäre denn jemand da gewesen, es sehen und ihn hätten retten können. Er wird seinen Mantel los, stirbt, kehrt zurück und sucht die Bewohner der Stadt heim, in der alles sichtbar ist, sogar die Gespenster.
Die Sichtbarkeit macht die beiden verwundbarer. Sie vermeiden, in die Nähe der Kaserne zu kommen. Das Schlimmste, den Platz vor der Isaakskathedrale, haben sie vor ein paar Minuten hinter sich gebracht und sind gerade nicht vollkommen auf der Hut, als an der Ecke, auf die sie zusteuern, ein Streifenwagen der Polizei auftaucht. Der Dieb drückt Andrej an die graue Wand in Höhe der Nummer 47 der Bolschaja-Morskaja-Straße, eines ehemaligen Palais, und umarmt ihn. Dank der Kapuze ist der Rekrut im Dunkeln nicht zu erkennen. Und niemand wird glauben, dass ein Pärchen, das sich nachts in St. Petersburg küsst, aus einem desertierten Rekruten und einem Taschendieb besteht. In dieser Stadt, in der sich frisch getraute Brautpaare auf den Brücken fotografieren lassen, kann es nur an Unwahrscheinlichkeit grenzen, dass es diese beiden gibt. Und doch sind sie sich begegnet, was wohl nur deshalb nicht unmöglich ist, weil sie tatsächlich existieren, aus Fleisch und Blut sind und keine Gespenster wie in der Geschichte von Gogol, die Andrej in der Schule gelesen hat. Der Streifenwagen fährt vorbei und biegt um die nächste Ecke. Ein Fremder könnte meinen, dass der Rekrut und der Dieb ein zu großes Risiko eingehen, wenn sie zusammenbleiben. Jeder vernünftige Mensch würde sagen, das sei reiner Selbstmord, sie würden weniger riskieren, wenn sich jeder in seiner Ecke versteckte. Die beiden zusammen, unterwegs in den Straßen der Stadt, seien eine Zeitbombe. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Und dieses Bewusstsein, das durch die Vortäuschung eines Kusses Gestalt annimmt, tritt an die Stelle des Bedürfnisses nach einer Erklärung. Sie brauchen einander nichts zu sagen. Mag sein, dass es zu zweit schwieriger ist, von dort wegzukommen. Aber wenigstens erregen sie, solange sie sich in der Stadt aufhalten, nicht den Verdacht, das zu sein, was sie sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein desertierter Rekrut auf einen Dieb trifft und ihn in der Petersburger Nacht küsst, ist
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