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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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hat ihn nicht gesehen; er ist viel zu sehr damit beschäftigt, den Taschendieb zu beobachten, als dass er sich darum kümmern könnte, was in seinem Rücken geschieht. Der Dieb hat seine Opfer schon fast eingeholt, da tritt der Polizist in Aktion und beschleunigt den Schritt. Andrej wird klar, warum der Polizist nicht bereits früher eingegriffen hat; ihm geht es nicht darum, den Dieb in flagranti zu erwischen oder den Diebstahl zu vereiteln, ganz im Gegenteil, er hat selbst ein Interesse daran, dass der Diebstahl stattfindet. Und diese plötzliche Erkenntnis lässt ihn impulsiv handeln. Bevor der Dieb den Rucksack des jungen Mannes öffnen kann und bevor der Polizist ihn festnehmen kann, schreit Andrej: »Halt!«
    Er ruft nicht »Vorsicht!« oder »Achtung!« oder »Polizei!« Er ruft mit der Überzeugung dessen, der weiß, dass er nichts aufhalten kann.
    Er ruft: »Halt!«
    Alle vier bleiben stehen und drehen sich erschrocken um. Das Touristenpärchen, der Dieb und der Polizist nehmen die Situation gleichzeitig wahr, doch interpretieren sie sie unterschiedlich. Es sind eine Menge Leute für die um diese Abendstunde menschenleere und schlecht beleuchtete Straße. Die Rucksackreisenden sind am meisten erschrocken, denn sie sind auch am ahnungslosesten. Sie verstehen die Sprache nicht und wissen nicht, was das alles bedeutet. Sie wissen nicht, wer was ist. Sie müssen eine ganze Kette von Gedankengängen zusammensetzen, um zu begreifen, dass sie erstens bestohlen werden sollten und dass zweitens ein Polizist schon seit dem Bahnhofsplatz hinter dem Dieb her war. Aber dass sie nicht von dem Polizisten gerettet wurden (und auch nicht gerettet worden wären), sondern von dem dritten Mann, der hinter ihnen allen gerufen hat, können sie nicht verstehen, und das wäre auch zu viel verlangt. Für den Polizisten jedoch gibt es keinen Zweifel: Dieser Mann, der da gerufen hat, ist Komplize und hauptverantwortlich dafür, dass der Einsatz gegen den Taschendieb vereitelt wurde. Folglich entscheidet er sich natürlich für ihn. Der Mann, der da gerufen hat, und nicht der Taschendieb, wird zu seinem direkten Ziel. Während der Polizist ihn verfolgt, laufen die Rucksackreisenden und der Dieb blindlings in gegensätzlicher Richtung davon, nach einem kurzen Blickwechsel, bei dem der Schrecken der Opfer seine Entsprechung im Ärger des Diebes findet, der eine Sekunde, bevor er seine Tat ausführen konnte, aufgeben musste.
    In diesem Viertel kennt der Rekrut sich nicht aus, er läuft hilflos zwischen den Gebäuden der ehemaligen griechischen Gemeinde umher. Ohne sich dessen bewusst zu sein, kommt er an einem verfallenen Krankenhaus vorbei, an der Statue eines griechischen Helden, einem kleinen Platz und dem verdunkelten Schaufenster eines Geschäfts, das tagsüber militärisches Gerät jeder Art verkauft, von harmlosen Feldflaschen bis hin zu Kalaschnikows. Er läuft so lange, dass er erst nach einer ganzen Weile merkt, dass inzwischen nicht mehr der Polizist hinter ihm herrennt. Der Taschendieb hat es geschafft, den Polizisten auf eine falsche Fährte zu locken, und ist nun selbst Andrej auf den Fersen.
    »Wir müssen hier weg. Bevor andere dazukommen«, ruft er dem mehrere Meter vor ihm laufenden Andrej zu.
    »Zum Fluss ist es doch nicht weit, oder?«, fragt Andrej, ohne stehen zu bleiben.
    »Die Brücken sind um diese Zeit hochgezogen. Jetzt müssen wir bis fünf Uhr warten.«
    »Scheiße!« Er bleibt keuchend stehen. Schweiß läuft ihm von der Stirn.
    »Weißt du nicht, dass die Brücken nachts hochgezogen werden?«
    Andrej schweigt. Natürlich weiß er es. Alle wissen es. Er hat den Zeitpunkt verpasst. Er dürfte ganz einfach um halb zwei Uhr nachts nicht draußen unterwegs sein. Und er wird dafür büßen müssen, dass er die Anweisungen der Frau, die ihn gerettet hat, missachtet hat. Jetzt kann er nicht nach Hause. Während des einen Jahres in der Kaserne hat er nie die Möglichkeit gehabt, die Brücken offen zu sehen. Er schlief immer schon, bevor sie hochgezogen wurden, und wenn er frühmorgens aufstand, hatte er kaum Zeit, an sich selbst zu denken, und erst recht nicht die Muße, sich anzusehen, wie die Brücken über die Newa heruntergelassen werden.
    »Ich weiß eine Stelle«, sagt der Dieb.
    Andrej sieht ihn erstaunt an.
    »Du bist noch mehr allein als ich, Mann. Du hast mich doch verfolgt, oder etwa nicht? Jetzt ist Misstrauen fehl am Platz. Misstrauisch müsste eigentlich ich sein. Ich will dir nichts schuldig bleiben.

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