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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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kurzes Misstrauen und Zögern. Und da ihre Kräfte erst langsam neu erstarken, berühren sich die halb geöffneten Lippen kaum. Andrej spürt wieder den eigenen Atem im Atem des Taschendiebes, er fühlt sich aufgenommen von dem Atemhauch, als würde er sich durch den Mund eines anderen zum ersten Mal der Luft bewusst, die er atmet und die ihn am Leben hält. Und erst als sich die beiden Gesichter wieder ein paar Zentimeter voneinander entfernen, wobei immer noch die Gefahr einer falschen Reaktion besteht, merkt Andrej, dass sie einander gleichen. Es sind nicht nur die dunklen Augen, die ganze Physiognomie des Diebes spiegelt sein eigenes Bild, je nach Winkel und Stärke des Lichteinfalls. Doch eine kleine Bewegung genügt, und schon löst sich der Eindruck auf, und jeder nimmt wieder seine eigene Identität an. Ein neuerlicher Schlag wirft Andrej zu Boden.
    Wie in einer Wiederholung derselben Szene steht er auf und torkelt hinter dem Taschendieb bis zur Metro her, wo er ihn an dem Abend, als er bestohlen wurde, verloren hat. Er läuft, so gut es geht, die Rolltreppe hinunter. Doch dieses Mal sind, anders als am ersten Abend, die Türen noch nicht geschlossen, als er auf dem Bahnsteig ankommt. Er hastet in den erstbesten Wagen. Kaum ist er drin, gehen die Türen zu. Zu seiner Erleichterung erspäht er den Dieb in dem Wagen vor ihm. Der Dieb steigt an der zweiten Haltestelle aus, Andrej folgt ihm auf Abstand. Am Sennaja-Platz steigen sie um. Nun fahren sie hinaus aus dem Stadtzentrum zu den südlichen Vororten. Sieben Stationen lang behält Andrej den Taschendieb im Auge. Sie sitzen in zwei Wagen hintereinander. Bei jedem Halt steht Andrej auf und vergewissert sich, dass der Dieb nicht ausgestiegen ist und noch auf demselben Platz sitzt. Nur dank seines Zustands kann er glauben, dass der Dieb ihn nicht bemerkt hat und nicht weiß, dass er ihm folgt. In Kuptschino verkündet der Lautsprecher, dass die Endstation erreicht ist. Weiter geht es nicht. Hier endet die Stadt. Als Andrej aussteigt, sieht er den Taschendieb nicht mehr. Er ist nicht in der Station. Andrej läuft den Bahnsteig entlang und sucht die leeren Wagen ab. Es kann nicht sein, dass er ihn wieder verloren hat. Plötzlich erblickt er ihn am anderen Ende der Station, wo er die Treppe hinaufsteigt. Er läuft hinterher. Draußen befindet sich ein einfaches Einkaufszentrum und ein Vorplatz vor einer breiten, von ungepflegten hohen Wohnblocks gesäumten Straße. Ein trostloser, düsterer Anblick, erst recht um diese Uhrzeit. Und diese Richtung schlägt der Mann ein, den er verfolgt. Der Dieb überquert die Straße, läuft zwischen Wohnblocks hindurch, über einen Fußballplatz ohne Rasen und biegt zwischen Beeten mit rachitischen Bäumen um eine Ecke. Andrej immer hinterher. Das Herz klopft ihm bis zum Hals. Als er um die Ecke biegt, sieht er den Dieb nicht mehr. Er ist einfach nicht mehr da. Verschwunden wie durch Zauberhand. Er kann nur in den Wohnblock hineingegangen sein. Die Haustür steht weit offen, dahinter ein dunkler Flur. Andrej geht trotzdem hinein. Genau gegenüber führt eine Treppe hinauf. Doch bevor er den Fuß auf die dritte Stufe setzen kann, wird er wieder brutal von hinten gepackt. Er versucht sich zu wehren. Sie stürzen beide zu Boden. Andrej schlägt mit dem Kopf auf und verletzt sich an der Stirn. Das Blut befleckt sein Sweatshirt und das Hemd. Im Fallen hat er sich mit dem Arm abgestützt und sich den Ellbogen aufgeschlagen. Er verspürt einen stechenden Schmerz. Er will sich befreien, wird aber erneut in die Mangel genommen.
    »Warum verfolgst du mich?«
    »Ich lasse nicht locker, bis du mir das Geld zurückgibst.«
    Der Dieb richtet sich langsam auf, ohne seine Umklammerung zu lockern. Und Andrej versucht, sich auf seinen wackeligen Beinen ebenfalls aufzurichten, um nicht erdrosselt zu werden. Der Taschendieb drückt ihm die Lippen ans Ohr und flüstert: »Jetzt hör gut zu, was ich dir sage. Komm mir nicht mehr unter die Augen. Geh zurück, wo du herkommst.«
    Andrej antwortet kaum hörbar: »Ich kann nicht ohne das Geld zurück.«
    Als er steht, löst sich der Dieb von ihm und stößt ihn mit aller Kraft nach draußen. Inzwischen hat er gemerkt, dass Andrej betrunken ist.
    »Verschwinde von hier und lass dich nie wieder blicken.«
    Andrej richtet sich auf, hustet und fasst sich an den Hals. Der Dieb geht die Treppe hinauf. Auf dem Treppenabsatz bleibt er stehen und dreht sich noch einmal um, bevor er weitergeht. Er sieht Andrej an,

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