Dreihundert Brücken - Roman
sie von weitem und suchte sich einen Platz in einiger Entfernung. Er wollte sie nicht stören. Und auch sie suchten offenbar nicht seine Nähe. Bis dahin war ihm niemals der Gedanke gekommen, dass Ernest Collin womöglich von seinem Verhältnis mit seiner Frau wusste und dass es zwischen ihnen vielleicht ein Stillhalteabkommen gab. Als die Stewardess die Passagiere für den Flug nach Paris aufrief, sagte Suzanne etwas zu ihrem Mann, stand auf und kam auf Alexandre zu, während ihr Mann sich in der Schlange anstellte. Bevor Alexandre aufstehen und sie unverbindlich begrüßen konnte, wie er es sich vorgenommen hatte, als er sie auf sich zukommen sah, stand sie schon neben ihm und sagte den Satz, der ihn sprachlos machte. Sie lächelte ihn an und sagte nur: »Ich nehme ein Kind von dir mit.«
Die Stewardess rief erneut die Passagiere für den Flug nach Paris auf.
»Das ist mein Flug«, setzte sie nach, drehte sich um und gesellte sich zu ihrem Mann in der Warteschlange.
Und während die beiden sich draußen auf der Piste in der Reihe der Passagiere auf dem Weg zum Flugzeug entfernten, hatte er zum ersten Mal in seinem Leben ein beklemmendes Gefühl, das er erst im Flugzeug, kurz vor der Landung in Belém, benennen konnte. Er war bestohlen worden. Als er durch die Glaswand des Warteraums zusah, wie das Ehepaar mit seinem Handgepäck in das Flugzeug nach Paris einstieg, spürte er, dass er verloren hatte. Es ging nicht um Suzanne. Für sie empfand er nichts mehr. Es ging um das, was sie gesagt hatte, als sie sich trennten, und was sie gerade im Warteraum gesagt hatte. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass man ihn beraubt und ihm Gewalt angetan hatte, als er glaubte, ein gutes Geschäft zu machen. Beim Anblick des Franzosen auf der Piste zum Flugzeug, im Handgepäck das, was er ihm am Abend zuvor übergeben hatte, fühlte Alexandre sich zum ersten Mal enteignet. Der Franzose, der Hand in Hand mit seiner Frau über die Piste ging, nahm einen Teil von ihm mit. Er fühlte sich, als hätte er die eigene Mutter verkauft. Und obendrein noch sein Kind verschenkt.
20.
Abend, St. Petersburg
A ls Anna die Tür öffnet, erblickt sie zu ihrem Staunen ihren Sohn, der sich auf dem Sofa fläzt, auf dem die rot gemusterte, von der Großmutter geerbte Decke liegt. Seit einer Woche ist Maxim nicht nach Hause gekommen. Er hat sich im letzten Jahr einen zynischen Ausdruck angewöhnt, den sie inzwischen als für Russen allgemein typisch betrachtet, was sie nur noch mehr in dem Wunsch bestärkt, ihre Schwester in New York zu besuchen. Mit diesem Ausdruck also empfängt er sie. Verwirrt fragt sie ihren älteren Sohn, ob er weiß, wo der Jüngere steckt, während sie sich im Flur die Schuhe auszieht.
»Roman ist beim Hockeytraining«, sagt er.
Anna sieht auf dem Wohnzimmertisch den Briefumschlag liegen, der verschwunden war, und ihr wird klar, dass sein Verschwinden und Maxims Wiederauftauchen denselben Grund haben.
»Er hat mir von dem Kaukasier erzählt«, fährt Maxim fort.
Anna geht in die Küche, sie will nicht zuhören, und auf dem Weg nimmt sie den Brief vom Tisch und steckt ihn in die Rocktasche. Ihr Sohn kommt hinterher.
»Er ist also wirklich gekommen«, sagt Maxim wieder in ironischem Ton, und sie tut weiterhin, als hörte sie nichts. »Du brauchst nicht nervös zu werden. Roman hat nichts kapiert. Und ich werde ihn natürlich nicht aufklären. Er glaubt, du bist wegen der Bauarbeiten so kaputt, und das Beste wäre für dich, etwas wegzufahren, notfalls auch allein, ohne Papa, um dich zu erholen. Er meint, die Ferien in Wyborg hätten nicht gereicht. Was soll ein Fünfzehnjähriger auch denken, wenn seine Mutter sich heulend ins Schlafzimmer verzieht, nur weil ein Arbeiter gefragt hat, ob die Fenster ausgetauscht werden sollen?«
Anna beherrscht sich mühsam, sie fühlt sich immer mehr in die Enge getrieben.
Maxim spricht weiter: »Dass du das nicht mehr lange durchhalten kannst, liegt auf der Hand. Und er kommt bestimmt wieder. Oder etwa nicht?«
Anna zittert am ganzen Körper. Maxim lässt ihr keine Zeit zu antworten.
»Ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe. Ist es dir lieber, dass er wiederkommt? Was siehst du eigentlich in diesem Kaukasier?«, fragt er.
In diesem Augenblick verliert sie die Beherrschung und gibt ihrem Sohn eine Ohrfeige. Er krümmt sich, die Hände vorm Gesicht, und als er sie wieder ansieht, hat er gerötete Augen und einen rebellischen Ausdruck, wie sie ihn lange nicht mehr bei ihm
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