Dreihundert Brücken - Roman
Woche zuvor, in der letzten Nacht, die er im Urwald verbracht hat, dreihundert Kilometer entfernt von Belém, bevor er in das Flugzeug nach Französisch-Guyana stieg, hat Alexandre dem Waldarbeiter, mit dem er sich zwei Jahre lang alle drei Monate getroffen hat, einen Abschiedstrunk angeboten. Er hat die Pflanzen geprüft, die dieser ihm überreichte, und sie sorgfältig in einen Metallzylinder gesteckt. Hat in die beiden Emailbecher Cachaça eingegossen und zwei Becher später von seinem Sohn in Russland erzählt. Noch nie hat er jemandem von seinem Sohn erzählt. Auch nicht der französischen Geliebten. Es ist ein neues Thema. Und er möchte von nichts anderem mehr sprechen.
»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, bei unserem Abschied, hat er mich gefragt, ob ich zu seinem Geburtstag wiederkomme.«
»Wie alt war er da?«, fragte der Waldarbeiter.
»Knapp zehn.«
»Dann wirst du deinen Sohn nicht wiedererkennen.«
»Meinst du?« Alexandre lächelte. »Ich weiß nicht einmal, ob er Portugiesisch kann. Aber wenigstens kann ich jetzt etwas für ihn tun.«
»Warum bist du weggegangen?«
»Ich konnte da nichts mehr tun. Was ich im Monat verdiente, reichte nicht mal für ein Stück Fleisch. Seine Mutter wollte bleiben. Wir konnten nicht mehr miteinander leben.«
»Weißt du was? Du sagst, du willst dich verabschieden, weil du nicht mehr herkommen wirst, aber ich habe noch nie erlebt, dass einer so einen Job aufgibt. Das schaffst du nicht.«
»Und was soll ich meinem Sohn sagen, wenn er dann bei mir ist?«
Der Waldarbeiter zuckte die Achseln und trank einen Schluck.
»Du brauchst gar nichts zu sagen.«
»Über kurz oder lang wird er es doch erfahren.«
»Dass die Arbeit schmutzig ist? Ja und? Wer kann es sich aussuchen?«
Alexandre starrte in den dunklen Urwald. Das einzige Licht in einem Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern kam von der Laterne über dem Tisch, an dem sie tranken. Sie saßen unter dem Vordach einer Hütte mit Wänden aus dünnen Baumstämmen, dicht an dicht in den Erdboden gerammt, die auf einer kleinen Lichtung stand. Das Licht, das Raubtiere fernhielt, machte sie gleichzeitig angreifbarer, während sie sich da mitten im Urwald unterhielten. Sie sahen nichts in der Umgebung, konnten selbst jedoch von jedem gesehen werden, der sich im Wald versteckte. Die Worte des Waldarbeiters ließen ihn zum ersten Mal erschauern. Bisher kannte er keine Angst, er hatte ja nichts zu verlieren. Doch nun, da sein Sohn kommen sollte, konnte er nichts mehr riskieren. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er nichts über den Waldarbeiter wusste, ob er verheiratet war, ob er Kinder hatte; in diesen zwei Jahren hatte er ihm nie eine persönliche Frage gestellt.
»Und du? Hast du Kinder?«
»Ja, drei. Zwei Jungen und ein Mädchen.«
»Und du hast nie daran gedacht, das hier ihretwegen aufzugeben?«
»Kann ich gar nicht, gerade ihretwegen.«
»Du könntest etwas anderes machen.«
»Was denn? Ich war schon Goldwäscher, war auch schon Fernfahrer. Ich kenne die ganze Gegend hier. Und jetzt, wo dein Sohn kommt, glaubst du, du könntest die Hände in Unschuld waschen und vergessen, was du getan hast? Ich bring dir nur die Pflanzen aus dem Urwald, die du haben willst. Was du dann damit machst, ist nicht mein Problem. Und du zahlst gut.«
»Ich will meinem Sohn helfen. Für ihn tun, was ich noch für keinen Menschen getan habe.«
Der Waldarbeiter grinste.
»Wie hübsch.«
»Glaubst du mir nicht?«
»Liebst du seine Mutter noch?«
»So was kann man sich nicht aussuchen. Ich habe sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen.«
»Denkst du noch an sie?«, fragte der Waldarbeiter.
Alexandre antwortete nicht.
»Und warum hast du erst jetzt beschlossen, den Jungen zu dir zu holen?«
»Er ist kein Junge mehr. Und er kann nicht da bleiben, wo er jetzt ist. Sie hat mir zum ersten Mal gesagt, dass sie nicht mehr allein für ihn sorgen kann. Und sie hat mich gebeten, ihn zu retten.«
Gleich nach dem Essen bei den Franzosen in Montjoly an diesem ersten Abend (es sollten noch weitere Abendessen folgen, jedes Mal, wenn er nach Cayenne kam) wurde Alexandre klar, während er aus den offenen Wohnzimmerfenstern auf das Meer blickte, warum sie ihn eingeladen hatten. Der Schweizer bemühte sich mit tausend Andeutungen und Drumherumreden, das Gespräch darauf zu bringen, wurde aber vom Gastgeber unterbrochen, der erzählte, er arbeite für Leute, die sich für die medizinischen Eigenschaften von Urwaldpflanzen
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