Dreihundert Brücken - Roman
gesunden Menschenverstand beweisen. »Ich spreche aus eigener Erfahrung«, sagt er.
»Warum gehen Sie denn dann zurück?«, fragt Alexandre, während er die Daten des Cousins in das Formular einträgt.
Der junge Mann antwortet nicht. Er lächelt unbeholfen. Er hat keine Wahl. Kann sein, dass man ihm angeboten hat, seine Schulden zu reduzieren, wenn er eine neue Arbeitskraft heranschafft. Und dass er seinen Cousin mitbringt, um sich selbst aus der Affäre zu ziehen. In dem Fall wäre er ein Verräter. Es sitzen noch mehr junge Männer wie er und sein Cousin im Flugzeug, und im Handumdrehen ist Alexandre dabei, weitere Einreiseformulare von Leuten auszufüllen, die ihm schweigend ihren Pass hinhalten.
Während er die Namen schreibt, überkommt ihn grenzenlose Traurigkeit. Und das Gefühl, gescheitert zu sein. Er denkt daran zurück, als er zum ersten Mal in so eine Propellermaschine stieg, zwei Jahre ist es her, acht Jahre nach seiner Rückkehr aus Russland. Damals war er wirklich Vertreter einer Firma für Autoersatzteile und war unterwegs nach Cayenne, um mit einem dort ansässigen Händler ein Geschäft abzuschließen. Er saß neben einem dicken weißen Schweizer, dem der Schweiß nur so herunterlief und der sich sehr interessiert zeigte, als Alexandre von seiner beruflichen Unzufriedenheit sprach und ihm erzählte, dass er in Moskau Botanik studiert hatte, die Umstände ihn aber zwangen, im Handel zu arbeiten. Der Schweizer hatte während der wirtschaftlich chaotischen Jelzin-Jahre geschäftlich mit russischen Wissenschaftlern zu tun gehabt und konnte ein paar Wörter Russisch radebrechen.
»O ja! Pflanzen! Ich liebe auch Pflanzen. Menja zavut Philippe, Familienname Martin. Ha, ha, ha«, lachte er und streckte ihm die Hand entgegen.
Der Zufall wollte es, dass sie im selben Hotel im Stadtzentrum untergebracht waren, weshalb sie sich das Taxi vom Flughafen zum Hotel teilten, und unterwegs nutzte der Schweizer die Gelegenheit und fragte Alexandre, ob er nicht Lust habe, zur Botanik zurückzukehren, seinem Studienfach, und ob er bereit sei, häufig ins Ausland zu reisen. Wenn die Sonne unterging und die Hitze etwas nachließ, und sei es nur um ein paar Grad, ging Alexandre gern vom Hotel zum Hauptplatz und zu den Palmen, die er vom Balkon seines Hotelzimmers aus sah. Als er am zweiten Abend auf dem Rückweg die Straße überquerte, hörte er, dass ihn jemand von oben her rief. Der Schweizer beugte sich über das Balkongitter seines Zimmers im zweiten Stock und lud ihn zum Abendessen bei Freunden in Montjoly ein. Selbst am Abend war die Hitze unerträglich. Sie nahmen ein Taxi. Als sie ankamen, war Alexandres Hemd schweißdurchtränkt. Sie wurden vom Hausherrn Ernest Collin empfangen, einem unan genehm wirkenden Mann, und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Suzanne, die so lange nicht lockerließ, bis Alexandre bereit war, ihr sein verschwitztes Hemd zu geben und im Badezimmer zu warten, bis sie es getrocknet hatte. Nach fünf Minuten kam sie mit dem Hemd auf einem Kleiderbügel zurück. Ein Jahr lang trafen sich die beiden heimlich, zumeist in Belém und ein einziges Mal in Rio de Janeiro. Sie war hochgewachsen, blond und hatte eine große Nase. Sie war es, die der Tätigkeit, die er für ihren Mann ausübte, einen Namen gab, die Erste, die ganz genau benannte, was er tat. Er selbst vermied es, darüber zu sprechen, als wäre es ihm unerträglich, sich dessen bewusst zu sein. Und das genügte. Nach einem Jahr heimlicher und zumindest anfangs leidenschaftlicher Rendezvous an den schläfrigen und regnerischen Spätnachmittagen in Belém verlor er das Interesse an ihr, bis er sie nicht mehr sehen wollte. Mit Widersprüchen konnte er nicht umgehen.
»Du bist nicht besser als all die anderen Männer, die ich gekannt habe, und vielleicht bist du sogar viel schlechter als sie, weil du deine Leute verraten hast, weil du die Reichtümer deines Landes stiehlst, um dich selbst zu bereichern, genauso gewöhnlich wie ein korrupter Politiker. Du bist eine Karikatur«, sagte sie, als sie sich trennten.
Die Worte der Geliebten, die Alexandre lediglich als amouröse Provokation hätte verstehen können, hatten letztlich dazu beigetragen, dass er seine Entscheidung traf, aber es gab noch einen anderen Grund. Er werde nicht wieder nach Cayenne reisen, sagt er zu dem jungen Goldsucher neben sich, stolz wie einer, der sich keinen Dünkel mehr erlauben kann, als er ihm seinen Pass und das ausgefüllte Formular zurückgibt.
Eine
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