Dreikönigsmord (German Edition)
noch Beeren zwischen den Nadeln. Sie leuchteten tiefrot im Sonnenlicht und wetteiferten mit den Beeren des Stechpalmenzweigs, den jemand an das Kreuz gelehnt hatte.
Ich habe keine Ahnung, Anselm, wie es möglich ist, dass du hier begraben bist und dein Leichnam in meiner Zeit an einem ganz anderen Ort entdeckt wurde, dachte Jo. Aber eine Reise durch die Zeit ist ja ein noch viel größeres Mirakel, das ich mir erst recht nicht erklären kann. Wenn ich ins Mittelalter gehören würde, würde ich wahrscheinlich für dich beten. Aber ich bin kein gläubiger Mensch. Ich hoffe jedoch, dass du deinen Frieden gefunden hast.
Jo hatte das schmiedeeiserne Friedhofstor wieder hinter sich zugezogen, als sie auf der anderen Seite der Wiese Meister Mattis entdeckte. Er schnitt Zweige von einer der Weiden, die am Klosterbach wuchsen. Sollte sie zu ihm gehen? Lutz hatte ihr gesagt, dass der Steinmetz dabei geholfen hatte, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Ja, sie war es ihm schuldig, mit ihm zu sprechen.
Als Jo nur noch wenige Meter vom Bach entfernt war, hörte Meister Mattis ihre Schritte im Schnee knirschen und drehte sich um. »Josepha …« Er zuckte ein wenig zusammen, als er sie bemerkte. Seine Stimme klang unsicher, aber seine Augen leuchteten. Ach herrje …
»Die Nonnen benötigen mehr Material zum Flechten der Körbe, als sie ursprünglich dachten.« Er deutete auf das dicke Bündel Zweige, das neben der Weide im Schnee lag.
»Ja, die Körbe werden wohl wirklich sehr groß«, bestätigte Jo. Ein verlegenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie gab sich einen Ruck. »Meister Mattis, ich möchte Euch dafür danken, dass Ihr mitgeholfen habt, mich aus dem Gefängnis zu retten. Mein Kollege … also Lutz Jäger … hat mir davon erzählt. Aber … Ihr erinnert Euch doch sicher noch an das Gespräch, das wir in Eurer Werkstatt miteinander hatten …«
Er nickte. »Ich habe es nicht vergessen.«
»Ihr habt damals gesagt, ich sei Euch plötzlich völlig fremd geworden. Euer Gefühl hat Euch nicht getrogen. Ich bin nicht die Josepha Weber, die Ihr kennt. Diese Josepha ist meine Ahnin. Ich selbst komme aus einer Zeit, die in der fernen Zukunft liegt. Genau genommen stamme ich aus dem 21. Jahrhundert. Auch Lutz Jäger kommt von dort.«
»Der Wirt der Grünen Traube hat mir bereits gesagt, dass Ihr nicht die Frau seid, für die ich Euch halte. Aber wie ist es möglich, dass Ihr zwischen den Jahrhunderten hin- und herwandern könnt? Ich kann das einfach nicht verstehen.«
»Eine alte Frau vom fahrenden Volk hat Lutz Jäger und mir kürzlich gesagt, manche Menschen besäßen diese Gabe. Lutz und ich seien hierhergekommen, um den Mord an Anselm zu sühnen. Aber auch ich habe nicht die geringste Ahnung, wie so etwas möglich ist.« Jo seufzte. »Eine Zeitreise spricht allen wissenschaftlichen Erklärungen Hohn.« Hohn ist dafür eigentlich ein viel zu schwaches Wort …
»Müsst Ihr den Bischof denn wirklich öffentlich des Mordes anklagen? Ich habe Angst um Euch. Was, wenn es Leonard gelingt, Euch wieder gefangen zu nehmen?« Meister Mattis machte eine Bewegung auf Jo zu, als ob er sie schützen wollte.
Bloß nicht über diese Option nachdenken! »Äbtissin Agneta ist davon überzeugt, dass wir nur so wieder in unsere eigene Zeit zurückkehren können«, sagte Jo viel zuversichtlicher, als ihr zumute war. »Ich muss das Risiko einfach eingehen. Lutz Jäger und ich gehören nicht hierher.« Ach, wie sehr sie sich nach so etwas Profanem wie einem heißen Bad mit fließendem Wasser sehnte. Danach, einfach wieder ihre Arbeit tun zu können. »Normal« zu sein …
Die Traurigkeit, die Jo in Meister Mattis’ Miene wahrnahm, brachte sie wieder in die mittelalterliche Gegenwart zurück.
»Wenn Ihr nicht die wirkliche Josepha Weber seid – wo befindet sie sich denn dann?«, fragte er leise.
»Diese Frage kann ich Euch leider auch nicht beantworten«, erwiderte Jo sanft. »Aber ich hoffe, dass, wenn ich in meine Zeit zurückgekehrt sein werde, auch meine Ahnin wieder hierherfinden wird. Wo auch immer sie sich zurzeit aufhalten mag.«
Meister Mattis schwieg. Schließlich erschien der Anflug eines Lächelns um seinen Mund. »Nach unserem letzten Gespräch war ich sehr zornig auf Euch. Trotzdem habe ich an der Marienstatue weitergearbeitet und ihr Euer Gesicht gegeben. Sie ist noch nicht fertig. Aber sie wird, glaube ich, sehr schön werden.«
Noch einmal: Ach herrje … Jo berührte seine Wange. »Wenn ich in Eure
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