Dreikönigsmord (German Edition)
Schießstand in Zweifel zu ziehen. Jetzt rücken Sie schon mit der Sprache heraus.« Er senkte die Stimme zu einem zweideutigen Flüstern. »Ich will ja keine intimen, schmutzigen Geheimnisse aus Ihrer Beziehung mit Friedhelm Seidel wissen.«
»Ach, zum Teufel mit Ihnen …«, begann Jo gereizt. Doch dann musste sie gegen ihren Willen lachen. »Meine Großmutter besitzt einen Bauernhof. Also, der Hof ist verpachtet. Aber das ehemalige Austragshaus ist zu einem Ferienhaus umgebaut worden. Dort haben meine Großmutter, meine Mutter und ich immer die Sommerferien verbracht. Bis ich so vierzehn, fünfzehn Jahre alt war. Und da habe ich reiten und mit Pferd und Wagen zu fahren gelernt. Aber auch während des übrigen Jahres bin ich viel geritten.«
Jo erinnerte sich: Das Glücksgefühl, mit den Bewegungen eines Pferdekörpers zu verschmelzen. Der Geruch von warmem Fell und von Heu. Ein Pferdekopf, der sich an ihrer Schulter rieb und dabei leise schnaubte.
»Sie waren ein Einzelkind, oder?«
»Ja, außerdem stamme ich aus einer reichen Familie und war sehr ehrgeizig in der Schule. Viele Freundinnen hatte ich, wie Sie sich wahrscheinlich denken können, also nicht«, fügte sie spröde hinzu.
»Sie waren aber bestimmt auch nicht der Typ, der sich mobben ließ …«
»Nein, ich konnte mich schon wehren.« Aber das Alleinsein hatte ihr trotzdem zu schaffen gemacht. »Und Sie? Ich hätte eigentlich immer gedacht, dass drei große Schwestern in ihren kleinen Bruder vernarrt wären …«
»Oh, die älteste schon. Was aber dazu führte, dass sie mich wie eine Babypuppe behandelte.« Er lachte. »Meine jüngste Schwester und ich sind nur anderthalb Jahre auseinander. Wir haben uns mit Zähnen und Klauen bekämpft. Eigentlich verstehen wir uns erst richtig gut, seit wir die Pubertät hinter uns haben.«
Unter ihnen breiteten sich nun die tiefverschneiten Weinberge aus. Im Westen waren die Wolken aufgerissen und gaben einen tiefroten Streifen Himmel frei. In einiger Entfernung konnte Jo die kahle Linde, die am Nachmittag ihr Treffpunkt gewesen war, am Feldrand sehen. Der in Serpentinen angelegte Weg hinunter zur Stadt war menschenleer.
Jo zog an den Zügeln, damit das Pferd bergab langsamer ging. »Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich Sie eigentlich auch in der Nähe des Stadttors aussteigen lassen statt bei der Linde«, sagte sie.
»Dann schaffe ich es vielleicht ja doch noch, meine Kneipe rechtzeitig aufzuschließen. Dafür gebe ich Ihnen bei Gelegenheit ein Freibier aus.«
»Nein danke.« Jo schüttelte den Kopf. »Wenn schon, dann hätte ich gerne einen Rotwein.«
Kaum dass Jo die Halle ihres Hauses betreten hatte, eilte Katrein auf sie zu. »Herrin, der Obergeselle Georg und ein Händler erwarten Euch in der Weberei. Es geht um eine Wollbestellung«, sagte sie aufgeregt.
O Gott … Warum kann ich nicht einfach wie in meinem richtigen Leben nur für eine Mordermittlung zuständig sein?, dachte Jo. Warum muss ich mich auch noch um einen Handwerksbetrieb und um ein Handelsgeschäft kümmern? Von denen ich außerdem nicht das Geringste verstehe?
Missmutig machte sie sich auf den Weg zur Weberei. Sie entdeckte den Obergesellen und den Händler, einen korpulenten Mann mit schwarzem, kurz geschnittenem Bart, im hinteren Teil des Raums. Während Jo zu ihnen ging, hörten die Gesellen an den Webstühlen nicht auf zu arbeiten, aber sie war sich nur zu bewusst, dass ihr sämtliche Blicke folgten.
Auf dem Tisch vor den beiden Männern waren Wollstränge ausgebreitet. Manche bestanden aus dickerem, andere aus dünnerem Garn. Natur- und Grautöne waren vertreten, ein dunkles Grün, verschiedene Braunschattierungen bis hin zu Rost sowie auch blaue Farben. Aber keine davon besaß auch nur die geringste Ähnlichkeit mit der Farbe der Flusen, die sie an der Kleidung des Jungen gefunden hatten.
»Josepha, wie schön, Euch bei guter Gesundheit wiederzusehen. Ich habe gehört, Ihr sollt krank gewesen sein … Nun, was darf ich Euch an Garnen liefern?«, sprudelte der Händler hervor.
»Ähm …« Ratlos ließ Jo ihren Blick über die Wollstränge wandern.
»Diese Wolle hat eine besonders gute Qualität.« Der Händler hielt ihr einen fein gesponnenen naturfarbenen Garnstrang hin.
»Ja, na ja …« Sie wäre noch nicht einmal in der Lage gewesen, die erforderliche Wollmenge für einen simplen Strickpullover zu berechnen. Geschweige denn für all die Stoffe, die auf den Webstühlen gefertigt wurden. Plötzlich hatte Jo eine
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