Dreikönigsmord (German Edition)
heischend die Leute ansah, die sich mittlerweile in einem Grüppchen um sie versammelt hatten. »Hier, betrachtet sie gut, diese Verworfene, und lasst sie Euch ein abschreckendes Beispiel dafür sein, was Stolz und Hoffart aus einem Menschen machen können.«
Jo reichte es nun endgültig. »Ach, rutschen Sie mir doch den Buckel runter«, fuhr sie ihn an. »Typen wie Ihr – engstirnige, verbitterte und verknöcherte alte Männer – sind der Grund dafür, warum den Kirchen im 21. Jahrhundert die Leute in Scharen davonlaufen.«
Nun starrte der Pater sie konsterniert an. »21. Jahrhundert …?«
»Ja, moralinsaure Pfaffen wie Ihr. Die nichts anderes können, als den Leuten zu drohen und sie einzuschüchtern.« Da er immer noch keine Anstalten machte, ihr aus dem Weg zu gehen, packte Jo ihn kurzerhand bei den hageren Schultern und schob ihn beiseite. Die Gaffer funkelte sie so wütend an, dass die Leute vor ihr zurückwichen. Eine Auseinandersetzung mit einem bigotten, durchgeknallten Geistlichen, das hat mir wirklich gerade noch zu meinem Glück gefehlt!, dachte sie gereizt.
»Josepha, wie schön, dass Ihr gekommen seid!« In dem zum Hof hin offenen Gang vor seiner Werkstatt eilte Meister Mattis Jo mit weit ausgestreckten Händen entgegen. Sein Lächeln war eindeutig wieder nur »strahlend« zu nennen. »Ich hätte nicht so bald schon mit Euch gerechnet. Umso angenehmer ist die Überraschung.«
Stand er doch auf sie? Falls seine Freude nur gespielt war – dann aus welchem Grund?
»Ähm, ich hatte gerade Zeit«, erklärte Jo etwas lahm, während Meister Mattis sie in die Werkstatt dirigierte. Wie bei ihrem letzten Besuch war der Raum sehr hell. Geradezu von Licht durchflutet, wenn sie ihn mit den niedrigen, dämmrigen Stuben verglich, die es sonst in den mittelalterlichen Häusern gab.
»Nehmt doch bitte dort Platz.« Er wies auf einen Lehnstuhl im hinteren Teil des großen Raums. »Und wenn Ihr nun Euer Gesicht etwas nach links drehen würdet … Ja, noch etwas weiter.« Ganz leicht berührte er ihre Wange, während er ihren Kopf in die gewünschte Position brachte. »Gut so.«
Jo verkniff sich gerade noch die Bemerkung, dass sie sich vorkam wie beim Fotografen. »Eine schlimme Sache, der Mord an diesem jungen Mann, der mitten in der Stadt bei der Gertrudiskirche gefunden wurde«, begann sie stattdessen tastend.
Meister Mattis wandte sich ab und ging zu dem großen Holztisch, auf dem kleine Tonmodelle, Pergamentbogen, Wachstäfelchen und diverse Schreibgeräte standen und lagen. Einige Momente verharrte er dort reglos, bis er schließlich ein Wachstäfelchen und einen Griffel zur Hand nahm und zu ihr zurückkehrte. Ist das Zufall oder will er mir ausweichen?, fragte sich Jo.
»Ja, in der Tat eine üble Sache«, sagte er dann.
»Habt Ihr den Ermordeten – Frowin – gekannt?«
Überraschung – oder ein anderer Ausdruck? – huschte über Meister Mattis’ Gesicht. Er trat einen Schritt von ihr weg und verschränkte die Arme vor der Brust. »Josepha, warum wollt Ihr das wissen?«
»Habt Ihr oder habt Ihr nicht?« Ihr Tonfall war schneidend und kalt. Unwillkürlich hatte sie ihre Verhörstimme benutzt.
»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht.« Er musterte sie ärgerlich, bis seine Miene ein plötzliches Begreifen spiegelte und milder wurde. »Oh, fragt Ihr Euch etwa, ob ich ein heimlicher Sodomit bin, weil Frowin ein Lustknabe war?«
»Nein, ich frage mich, ob Ihr nicht vielleicht sein Mörder seid.« In der folgenden Stille hallten Jos Worte nach, schienen sich mit ihrem Gewicht bis in die hintersten Winkel der Werkstatt auszudehnen.
»Frowins Mörder …? Wie könnt Ihr nur so etwas von mir denken?« Er war blass geworden. Seine Stimme klang mehr bestürzt als vorwurfsvoll. »Ihr kennt mich doch.«
Nein, sie kannte ihn überhaupt nicht … »Würdet Ihr bitte einfach meine Frage beantworten?«
Meister Mattis schüttelte den Kopf. »Josepha, Ihr seid mir plötzlich völlig fremd geworden. Als ob Ihr ein ganz anderer Mensch wäret. Ja, als ob etwas in Euch zu Stein geworden wäre.«
War sie das als Polizistin – versteinert? Jo schob den Gedanken beiseite.
Als sie nichts erwiderte, räusperte Meister Mattis sich. »Ja, ich kannte Frowin. Im Sommer habe ich einige Statuen für die Fassade der Gertrudiskirche angefertigt. Deshalb hatte ich häufiger dort zu tun. Ich sah den Jungen einige Male, als er die Kirche besuchte. Er fiel mir auf. Er wirkte unschuldig, aber gleichzeitig so, als ob er an
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