Dreikönigsmord (German Edition)
sich für die Wahrheit: »Ich möchte Annas Mörder finden.«
»Aber …«
»Bitte redet mit mir!«
Jo dachte schon, Annas Mutter würde sich wieder in ihre Trauer zurückziehen und sie nicht länger beachten. Doch schließlich nickte sie und flüsterte: »Wartet draußen auf mich.«
Kurz darauf erschien Annas Mutter in dem Flur und bedeutete Jo, ihr zu folgen. Eine Wendeltreppe hinauf und dann in eine Kammer – ganz offensichtlich Annas Zimmer. Keine Poster von Schauspielern oder Popstars hingen an den weiß gekalkten Wänden. Trotzdem war es unverkennbar, dass dieser Raum einer Jugendlichen oder jungen Frau gehört hatte. Eine in fröhlichen Farben gewebte Decke lag über dem Bett. Auf der Truhe saß eine Holzpuppe, die einen bunten Kittel trug. Daneben stand eine kleine Tonvase, in der ein Mistelzweig steckte, und an einem Nagel in der Wand baumelten Holzperlenketten und Armreifen aus Messing und Bronze.
Schwerfällig setzte sich Frau Baumgarten auf das Bett und nahm die Puppe in die Hand, als wollte sie so Anna nahe sein.
»Ihr erlaubt?«, fragte Jo. Als Annas Mutter nickte, zog sie sich einen Schemel heran.
»Josepha Weber, wie kommt Ihr dazu zu sagen, dass Ihr den Mörder meiner Tochter finden wollt?« Frau Baumgartens leise Stimme klang völlig emotionslos. »Das ist doch Sache der Richter und der Stadtsoldaten.«
Jo wollte sich nicht lange mit Erklärungen aufhalten, die ohnehin nur unbefriedigend sein konnten. »Nein, es ist auch meine Sache«, gab sie entschieden zurück. »Mörder zu finden und dingfest zu machen ist mein Beruf … Also ich meine gewissermaßen meine Berufung.« Sie beugte sich vor und sah Annas Mutter in die Augen. »Vor kurzem sind zwei andere Morde in der Stadt geschehen. Ich halte es für möglich, dass sie mit dem Mord an Anna in Verbindung stehen. Ich möchte verhindern, dass es weitere Todesfälle gibt. Deshalb bin ich auf Eure Hilfe angewiesen.«
Frau Baumgarten schüttelte den Kopf, und doch erkannte Jo daran, wie sie sich unwillkürlich ein wenig straffte und ihr Blick klarer wurde, dass sie ihr trotz aller Zweifel und ihres Unverständnisses gerne glauben wollte.
»Diese Puppe hat Anna gehört, nicht wahr?«, sagte sie sanft. »Eure Tochter muss das Spielzeug sehr geliebt haben, so abgewetzt wie das Gesichtchen ist.«
»Anna hat sie zu Weihnachten bekommen, als sie sechs Jahre alt war.« Frau Baumgarten lächelte ein wenig. »Sie hat sie Marie genannt und wollte sich nie von ihr trennen. Überall hat sie sie mit hingeschleppt. Noch bis vor zwei Jahren hat sie die Puppe mit ins Bett genommen.« Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, als sie müde sagte: »Jetzt sprecht schon! Was wollt Ihr wissen?«
Jo stellte die Standardfrage: »Hatte Anna irgendwelche Feinde?«
»Nein, natürlich nicht. Sie war ein liebes Mädchen. Jeder mochte sie.«
Jo beschloss, es vorerst dabei bewenden zu lassen. »Eure Tochter trug Jungenkleidung, als sie ermordet wurde«, tastete sie sich weiter vor. »Habt Ihr irgendeine Ahnung, warum sie sich verkleidete?«
»Nein, ich kann mir überhaupt nicht erklären, warum sie die Sachen ihres Bruders angezogen hat.«
»Anna hat einen Bruder?«, fragte Jo überrascht. Hatte es der Mörder etwa in Wahrheit auf ihn abgesehen?
»Ja, unseren Sohn Johannes. Seit zwei Jahren ist er in der Lehre bei einem Goldschmiedemeister in Regensburg.«
Wenn sich Johannes tatsächlich seit zwei Jahren nicht mehr in Ebersheim aufhielt, hatte sich damit ihre Theorie wohl erledigt. Trotzdem hakte Jo sicherheitshalber noch einmal nach: »Kam Euer Sohn in dieser Zeit nach Hause?«
Frau Baumgarten wirkte irritiert. »Nein, natürlich nicht. Ihr wisst doch, dass es nicht üblich ist, dass ein Junge während seiner Lehre sein Zuhause besucht. Heute Morgen haben wir einen Boten zu ihm geschickt. Ich hoffe, dass er rechtzeitig zu Annas Beerdigung hier ist.« Sie begann zu weinen und presste ihre Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Jo gab ihr Zeit. Als Frau Baumgarten sich schließlich wieder etwas gefasst hatte, fragte sie behutsam weiter: »Es muss doch einen Grund gehabt haben, warum Anna sich verkleidete. Gab es vielleicht jemanden, mit dem sie sich heimlich traf? Hatte sie einen Freund?«
»Einen Freund? Was meint Ihr damit?«
»Na ja, einen jungen Mann, in den sie verliebt war.«
»Anna war ein anständiges Mädchen!«, fuhr ihre Mutter auf.
»Ja, gewiss war sie das.« Jo nickte besänftigend. »Eure Tochter war vierzehn Jahre alt und
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