Dreikönigsmord (German Edition)
Kind mit ihrem Leib schützen.
Eine Berührung an ihrem Arm ließ Jo aufschrecken. Lutz stand neben ihr. Sein Gesicht wirkte ganz grau. »Komm«, sagte er leise.
Sie kämpften sich wieder durch die Menge. Jo schien es, als ob sich mittlerweile noch mehr Menschen auf der Wiese zusammengefunden hätten. Auch die angrenzende Gasse war voll aufgeregter Leute. Rasch gingen sie weiter in Richtung Stadtrand. Noch immer gellten Jo die Schreie der Mutter in den Ohren. Gegenüber einem Gehöft wuchs eine Baumgruppe am Straßenrand. Sie steuerten darauf zu und verbargen sich zwischen den Stämmen.
»Ein ermordetes Mädchen, das Jungenkleidung trug …« Lutz’ Stimme klang ganz rau.
»Ja, ich habe mich auch schon gefragt, ob der Täter sie für einen Jungen hielt und sie deshalb umbrachte.« Sachlich über den Fall zu reden half Jo, ihre Gefühle einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
»Wahrscheinlich wird ihre Familie sie nach Hause bringen und sie dort aufbahren. Ich schätze, das ist in dieser Zeit so üblich.« Auch Lutz suchte Halt in der Sachlichkeit. »Was es für uns schwierig machen dürfte, den Leichnam zu untersuchen.«
»Ich gehe besser allein dorthin und versuche, mit der Familie zu sprechen. Als Frau dürfte es mir leichter als dir gelingen, einen Zugang zu ihnen zu finden.« Jo graute es vor dieser Aufgabe. Manches , dachte sie traurig, bleibt sich im Laufe der Jahrhunderte immer gleich. Von dem Gehöft drang das dünne Winseln eines jungen Hundes zu ihnen herüber.
»War Annas Kleidung intakt, oder war sie zerrissen?«, fragte sie.
»Ich glaube intakt.«
»Also wahrscheinlich keine Vergewaltigung …«
»Nein, wahrscheinlich eher nicht …« Lutz räusperte sich. »Als ich mir vorhin die Leiche des Mädchens angesehen habe, ist mir etwas anderes aufgefallen. Ein merkwürdiger Schuhabdruck im Schnee. Er könnte natürlich auch von der Person stammen, die das Mädchen gefunden hat. Oder von einem der Stadtsoldaten …«
»Jetzt sag schon, wie sah der Abdruck aus?«
»Ein Nagel mit einem kreuzförmigen Kopf, der in einem Absatz steckte.«
»Kannst du ihn aufzeichnen?«
»Du kannst es wohl nie lassen, Beweisstücke zu dokumentieren.« Lutz seufzte. Doch er folgte Jo zur Gasse, wo sie ihm eines ihrer Wachstäfelchen und einen Griffel reichte. Im schwachen Licht einer Lampe über einer Hofeinfahrt ritzte er den Abdruck in das Wachs. »Hier«, sagte er schließlich, während er ihr das Täfelchen reichte. »Aber ich muss dich warnen. Im Zeichnen hatte ich immer bestenfalls eine Drei.«
Gelblich und krakelig hoben sich die Umrisse eines eckigen Absatzes und eines umgetretenen Nagels, der etwa zwei Zentimeter lang schräg über der Sohle lag und einen breiten, kreuzförmigen Kopf hatte, von dem braunen Wachshintergrund ab. »Hat was von einer Kinderzeichnung«, konnte Jo sich nicht verkneifen zu bemerken.
»Ich hab’s dir ja gesagt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Gut, dann schlage ich vor, dass ich morgen die Familie des Mädchens aufsuche und du dich bei deinem Freund Peter und den anderen Stadtsoldaten wegen dieses Schuhs umhörst.«
Sie verabschiedeten sich und gingen getrennt zur Stadt zurück. In der Nacht träumte Jo von der Leiche des Mädchens. Ihr blutverschmiertes Antlitz vermischte sich mit den entstellten Gesichtern junger Frauen. Opfer aus ihrer eigenen Zeit, deren Mörder sie zu finden versucht hatte. Schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen wachte Jo auf. Einen Moment lang wusste sie in der Dunkelheit nicht, ob sie sich im Mittelalter oder in der Gegenwart befand.
Das Haus in der Josephigasse, in dem Anna Baumgarten mit ihrer Familie gelebt hatte, war ein stattliches, schindelgedecktes Fachwerkgebäude. Sonst hatte es mit seinen grüngestrichenen Fensterläden und dem geschnitzten Hahn oben auf dem Dachfirst sicher anheimelnd und fröhlich gewirkt. Doch als Jo am Tag nach dem Mord darauf zuging, kam es ihr vor, als ob das Gebäude die Trauer seiner Bewohner ausstrahlte. Auch in der Gegenwart hatte sie dieses Gefühl häufig überfallen, wenn sie die Angehörigen von Mordopfern aufsuchen musste. Vielleicht lag es daran, dass diese Häuser oder Wohnungen eine besondere Stille zu umgeben schien.
Jo atmete tief durch und wappnete sich, als sie die Haustür aufzog, die nur angelehnt war. Sie war froh, dass sie nicht die Todesnachricht überbringen musste.
In dem geräumigen Flur stand eine dunkel gekleidete Magd, deren junges Gesicht aufgequollen und rot vom Weinen war. »Wenn
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