Dreikönigsmord (German Edition)
Ihr Euch dort bitte einreihen wollt«, sagte sie leise und wies auf eine Reihe von – ebenfalls dunkel gekleideten – Menschen. Jo stellte sich in die Schlange, die sich langsam auf eine offene Tür zubewegte. Aus dem Zimmer dahinter war ein sich rhythmisch wiederholendes Gemurmel zu hören, das Jo an ein dahinplätscherndes Gewässer erinnerte.
Nach einer Weile konnte Jo über die Schultern der Leute vor sich den Sarg sehen. Er stand auf einem mit schwarzen Tüchern verhängten Tisch. Zwei große Kerzen brannten davor. An einer Seite des dämmrigen Raums saßen einige Frauen. Sie murmelten Gebete und ließen die Perlen eines Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten. Menschen kamen aus dem Zimmer, und die Schlange der Kondolierenden rückte weiter vor. Jo wunderte sich über den intensiven Gewürzgeruch in der Luft, bis sie begriff, dass er von einem Bronzebecken hinter dem Sarg herrührte. Die Gewürze verglommen in der Kohlenglut, wohl um den Verwesungsgeruch zu vertreiben.
Als Jo schließlich vor dem Sarg stand, bekreuzigte sie sich und senkte den Kopf, als ob sie ein stilles Gebet spräche, so wie sie es bei den anderen Trauernden beobachtet hatte. Ein fest gewebtes weißes Leinentuch verhüllte Annas Körper bis zur Brust. Ihre Hände hatte jemand gefaltet und ein kleines silbernes Kreuz zwischen die Finger geschoben. Gekleidet hatte man sie in ein dunkles Gewand. Dunkel war auch der Schal, der ihren Hals bis zum Kinn bedeckte und so die klaffende Wunde in ihrer Kehle verbarg. Annas zartes Gesicht war vom Blut gesäubert. Fast wirkte es, als ob sie schliefe. Doch die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern waren zu tief in die Höhlen gesunken, und nun konnte Jo auch ganz schwach den Verwesungsgeruch wahrnehmen, der dem Leichnam entströmte.
»Heilige Maria, Muttergottes, steh uns bei, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, hörte Jo die Frauen beten. Zorn erfüllte sie. Annas Todesstunde war viel zu früh gekommen. Gott und die heilige Jungfrau hatten den Mord geschehen lassen – wie so unendlich viele andere auch. Sie hielt es nicht länger in dem Raum aus und hastete zur Tür.
Ein Knecht vertrat ihr den Weg. »Meister Baumgarten und seine Gattin findet Ihr in der Stube«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Bedrückt fragte sich Jo, wie man wohl Trauernden im Mittelalter angemessen kondolierte. Doch letztlich war dies ganz einfach. Annas Eltern saßen auf hochlehnigen Stühlen an der Stirnseite eines großen, getäfelten Raums, in dem sich bereits andere Kondolierende aufhielten. Conrad Baumgarten war ein Mann in den späten Dreißigern, der sich sehr gerade hielt und ein markantes, willensstarkes Gesicht besaß. Sicher kein einfacher Ehemann und Vater. Seine zusammengepressten Lippen zeigten, wie zornig er war. Dieser Zorn, vermutete Jo, hielt ihn aufrecht. Seine Frau dagegen – Anna hatte ihre zarten Gesichtszüge geerbt, auch wenn sie fülliger war als ihre Tochter – weinte leise vor sich hin. Alle Lebenskraft schien sie verlassen zu haben.
Jo reichte den Eltern nacheinander die Hand und murmelte: »Mein Beileid.« Conrad Baumgarten nahm ihre Bekundung mit einem kurzen, beinahe schroffen Nicken zur Kenntnis. Seine Frau presste Jos Hand, als wollte sie sich daran festhalten. Jo trat zur Seite, um einem Mann, der hinter ihr wartete, Platz zu machen. Wie soll es mir nur gelingen, mit den Eltern zu reden, ohne Aufsehen zu erregen?, überlegte sie. Ob sie besser an einem anderen Tag wiederkam? Aber sie musste doch mit ihren Ermittlungen weiterkommen.
Unschlüssig blieb Jo neben dem wuchtigen Kamin stehen und verwünschte wieder einmal die Rolle, in die das Mittelalter sie zwang. Nun betrat ein Mann, der einen teuren, pelzbesetzten Mantel trug und eine Aura von Wichtigkeit verströmte – wahrscheinlich irgendein hoher Würdenträger der Stadt –, den Raum. Conrad Baumgarten stand auf und ging ihm entgegen. Ihre Einschätzung war anscheinend richtig gewesen.
Rasch sah Jo sich um. Die anderen Trauergäste waren in leise Gespräche vertieft. Auch Conrad Baumgarten und der Amtsträger redeten gedämpft miteinander. Niemand beachtete sie.
Jo huschte zu Annas Mutter und beugte sich zu ihr. »Bitte«, flüsterte sie, »ich möchte mit Euch über Anna sprechen. Es ist sehr wichtig. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
»Warum …?« Frau Baumgarten sah sie verständnislos an, während ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten.
Wie sollte sie sich ihr nur begreiflich machen? Jo entschied
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