Dreimal Liebe
Teilchen besteht. Wir allerdings diese, mit der Dimension des uns gegebenen Augenlichts, nicht wahrnehmen und stattdessen nur das Ganze sehen können. Was ein Mensch glaubt zu sehen, muss nicht der tatsächlichen Wahrheit entsprechen. Wie die Welt aussehen würde, könnte man sie im kompletten Umfang der kleinsten Materie wahrnehmen, lag außerhalb der Reichweite unseres Vorstellungsvermögens. Und genauso ging es Tobias, nur mit dem Unterschied, dass die für uns augenscheinlich normal wirkenden Sachen für ihn schon an Utopie grenzten.
Tiere zum Beispiel. Tobias kannte Haustiere wie Hunde oder Katzen. Wusste, dass sie ein flauschiges Fell und komische Ohren hatten, kleiner als Menschen waren und auf vier Füßen liefen. Aber was war mit dem Rest? Mit Elefanten, Giraffen, Vögeln, Insekten, Krokodilen, Tigern, Löwen und den ganzen anderen Tieren? Die konnte man nicht einfach einfangen und abtasten. Er kannte sie nur von Spielzeugfiguren aus Plastik. Und ihm diese Tiere zu beschreiben, wo er doch keinen Vergleich hatte, war unmöglich. Ein Schnabel, ein gebogener Hals, Hörner oder ein Panzer – das waren alles Dinge, mit denen er nichts anfangen konnte.
Seine Gedanken drehten sich noch eine ganze Weile um diese Themen, ehe er den Mut fassen konnte, Anna darauf anzusprechen.
»Anna?«, fragte er leise, war sich nicht sicher, ob sie in der Zwischenzeit vielleicht eingeschlafen war.
»Hm?«, machte sie, ein zufriedener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Was sind Farben?«
Angestrengt nachdenkend blies Anna Luft durch den Mund. Wie sollte man jemandem, der von Geburt an blind war, so etwas erklären? Es stand ja sogar in den Sternen, ob überhaupt für Sehende Farben die gleiche Bedeutung hatten, oder ob Annas rot vielleicht eines anderen grün war.
Tobias hatte nicht einmal die blasseste Ahnung, was Farben anbelangte. Selbst in seinen Träumen, so hatte er ihr erzählt, konnte er nicht sehen, nicht einmal Schemen erkennen. Er träumte sehr oft, verhielt sich dort aber genau wie in seinem normalen Leben. Nur mit dem Unterschied, dass er sich meistens ohne seinen Stock frei bewegen konnte und trotzdem nirgendswo gegen lief. Manchmal tat er darin auch Dinge wie Autofahren, Dinge, die er sonst niemals tun könnte. In seinen Träumen war Tobias viel freier, nicht so gefangen, war fast so normal wie jeder andere. Die Tatsache, dass er Anna schon öfter in seinen Träumen geküsst hatte, hatte er ihr jedoch verschwiegen.
Anna überlegte und überlegte, aber sie wüsste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Das Einzige, was sie tun könnte, wäre ihm zu sagen, was sie mit den unterschiedlichen Farben assoziierte. Und das wollte sie versuchen.
»Kannst du dir den Geschmack von Erdbeeren in Erinnerung rufen?«, fragte sie Tobias, der nach kurzem Zögern nickte.
»Gut«, sagte sie. »Denk an den saftigen, süßen Geschmack und den Geruch von Erdbeeren, Kirschen und reifen Früchten. Spüre ihn auf der Zunge.«
»So schmeckt rot«, sagte sie mit geschlossenen Augen.
»Rot ist eine sehr warme Farbe, sie steht für Liebe, Leidenschaft, Hitze und Feuer«, fuhr Anna fort. »Sie ist weder dunkel noch hell, befindet sich genau in der Mitte. Unser Blut und unsere Lippen sind rot, genauso wie sämtliche Warnsignale. Schmerz und Sehnsucht verbinde ich auch mit rot. Ich denke, dass diese Farbe eine sehr wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Und sie kann gleichzeitig für wunderschöne und schreckliche Dinge stehen. Rot ist sehr intensiv, eine Gefühlsfarbe.«
Tobias lauschte ihren Worten; es klang sehr schön, was sie erzählte.
»Atme tief ein, Tobias«, forderte Anna ihn besonnen auf. »Riechst du das frische Gras, die Pflanzen und die Blüten? – Das ist grün.«
»In der Natur bedeutet grün Leben«, sprach sie weiter. »Eine alte Redewendung sagt, dass grün für ›Hoffnung‹ steht. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber wenn nach einem langen, kalten Winter der Frühling einkehrt und die ganze Landschaft, die Blätter, die Wiesen in verschiedene Grüntöne verwandelt, dann wirkt es tatsächlich so. Grün gibt mir irgendwie immer das Gefühl, lebendig zu sein, beruhigt mich.«
Tobias atmete immer wieder ein und aus, er roch ganz deutlich, was Anna mit »lebendig« meinte.
»Blau ist für mich wie salzige und frische Meeresluft«, sagte sie. »Ein klarer Bergsee an einem kalten Wintermorgen, der Himmel bei schönem Wetter, gewaschene und gut riechende Wäsche, genauso wie die unendliche Ferne.« Sie
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