Dreimal Liebe
nach ihren Händen, klammerte mich daran fest und verbarg mein verweintes Gesicht darin. »Ich will nicht, dass du überhaupt stirbst.«
Es war einfach nicht fair. Das Universum nahm keine Rücksicht auf unser Flehen, verwehrte uns eine Wahl und ließ mich mit den Fragen zurück, ob ich meinen Egoismus, Sonja solange wie möglich bei mir haben zu wollen, überwinden könnte, ob ich in der Lage wäre, in Kauf zu nehmen, dass es mir schlechter ginge, nur damit es ihr besser ging, und ob ich eines Tages in die Augen meines Sohnes blicken und ihm sagen könnte, dass ich die Mama aus Liebe getötet hatte.
»Ich will nicht gehen, Jan, glaub mir, ich will es nicht. Ich würde so gerne bei euch bleiben und wünsche mir nichts sehnlicher, als Fynn beim Aufwachsen zusehen zu können. Ich wollte nicht sterben, Jan. Aber die Wahrheit ist, dass ich längst tot bin.«
Ich schüttelte den Kopf und presste ihre knochigen Finger immer fester an mein Gesicht.
»Mein Schatz«, sagte sie und streichelte mit ihrer freien und schwachen Hand über meine Haare. »Gib mir die Möglichkeit, mich bei klarem Bewusstsein von euch zu verabschieden. Das Morphium lässt mich fast den ganzen Tag verschlafen; ich habe schreckliche Angst, dass ich meine Augen bald überhaupt nicht mehr öffne und ins Koma falle. Soweit möchte ich es nicht kommen lassen.«
»Du weißt nicht, ob es so kommt!«
»Doch«, sagte sie. »Ich weiß es, und du weißt es auch.«
Ich schloss die Augen, blendete alle Geräusche aus und ließ es vollkommen still um mich werden, bis ich das Gefühl hatte, vom Wind getragen zu werden.
Zeit war etwas, das es in Sonjas und meiner Welt nicht gab. Jede Sekunde könnte ihre letzte sein, und bereits zu viele davon hatte ich hier draußen verbracht. Ich musste zu ihr zurück und konnte nur hoffen, dass ihre Atemzüge immer noch andauerten, wenn ich sie erreichte.
Noch ein letztes Mal sog ich die frische Luft in meine Lungen, nahm den kurzen Moment, den ich nur für mich allein hatte, in vollen Zügen in mich auf. Dann öffnete ich die Augen, drehte der Klippe den Rücken zu und verließ diesen Ort mit dem Gefühl, dass ich mich eigentlich längst entschieden hatte.
Die vergessenen Kinder von Brooklyn
Prolog
New York. Die Stadt, die niemals schlief, sagte man sich, die Stadt, in der Träume das Fundament der Realität waren, die Stadt, in der die Legende »vom Tellerwäscher zum Millionär« verbreitet war wie nirgendwo sonst im Land. Man kannte New York von Bildern, von atemberaubenden Luftaufnahmen, die in goldenes Licht getauchte Wolkenkratzer zeigten, deren Tower mit dem schwarzen Nachthimmel Manhattans verschwammen. Modernität, Anmut und Reichtum verband man mit dieser Metropole, geschäftstüchtige Nadelstreifenanzugträger, die mit feinsten Kalbsleder-Aktentaschen und einem Coffee-to-go zu ihrem nächsten Termin über den Times Square eilten, so geschmeidig und arrogant wie Gazellen, ständig begleitet von lautem Hupen und Schimpfen der Taxifahrer, die den Stretchlimousinen die Vorfahrt nahmen und mit ihren gelben Autos die Vorherrschaft auf den Straßen übernommen hatten.
Manche Menschen behaupteten sogar, dass New York nicht einfach nur eine Stadt, sondern in Wirklichkeit ein lebender Organismus war. Mit eigener Atmung und eigenem Pulsschlag. Vielleicht stimmte das auch. Und es mochte sich im ersten Moment wie eine wunderschöne Beschreibung anhören, doch schon bald würde man merken, dass ein jeder lebender Organismus auch den Nachteil barg, anfällig für Krankheiten zu sein.
Ließ man sich von der Skyline auf der weitverbreiteten Postkartenidylle nicht blenden, so sah man den feinen Staub der Auspuffgase und den Dreck, der sich an allen Ecken sammelte wie Teer in den Lungenverästelungen eines Kettenrauchers. Blendete man alle Geräusche aus, so hörte man, dass die Atmung der Stadt von einem ständigen, nicht schleimfördernden dumpfen Husten unterbrochen wurde, dass die Herzklappen verengt waren und der Puls nur im Takt von Macht und Geld schlug. Die Augen, befallen von dem Schleier der Engstirnigkeit, der die Sicht über das eigene Spiegelbild hinaus gar unmöglich machte, schauten trübe ins Leere. Die Ohren, dauerbeschallt von betäubendem Lärm und heimgesucht von dem Tinnitus der Schnelllebigkeit, hatten verlernt, auf die leisen Geräusche und Rufe zu achten.
New York war eine Stadt, die acht Millionen Menschen beherbergte – acht Millionen verlorene Seelen. Und Joel Morgan war eine davon.
Die alte
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