Dreimal Liebe
endgültige Entscheidung jedes Mal schwer. Innerhalb Sekunden – denn nur so lange war das Zeitfenster geöffnet – mussten alle Eventualitäten mit einberechnet werden, einschließlich derer, die man nicht einberechnen konnte. Nach einer halben Stunde war es schließlich Nate, der Joel mit einem Nicken auf einen ungefähr vierzigjährigen, kahlköpfigen und rundlichen Mann in dunkelgrünem Anzug aufmerksam machte. Joel folgte seinem Blick, und die Entscheidung war gefallen. Wie scheinbar desinteressierte Passanten folgten sie dem dicklichen Mann, bis er vor einem Schaufenster mit maßgeschneiderten Anzügen zum Stehen kam. Nate näherte sich von links, straffte den Oberkörper und begann zu gestikulieren: »Eine Schneiderei soll das sein? Eine Frechheit ist das, nichts weiter! Mein letzter Anzug wurde vollkommen ruiniert von diesen unqualifizierten Scharlatanen!« Der Mann mit der Glatze drehte den Kopf in Richtung des aufgebrachten Jungen, musterte dessen löchrige Kleidung und runzelte die Stirn. Joel, der sich langsam von der anderen Seite heranpirschte, zögerte noch eine Sekunde, dann rempelte er den Mann an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Joel, und ging weiter. Niemand hatte etwas gemerkt, nur Joel spürte, wie sich seine Hosentasche nun deutlich voller anfühlte.
Eigentlich ein Kinderspiel. Und meistens ging es gut.
Meistens.
»Wo ist mein … Was zum Teufel? Du widerlicher Penner hast mich beklaut!«
Geschrei, das Joel und Nate wie glühende Nadelspitzen durch Mark und Bein fuhr. Sie blickten über die Schulter, sahen, wie drei kräftig gebaute und couragierte Mitbürger, um Recht und Ordnung bemüht, auf sie aufmerksam wurden, und rannten los.
Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße!
»Wohin?«, rief Nate, und hätte beinahe eine kleine asiatische Frau umgerannt. Joel drängte sich an einer Gruppe Touristen vorbei, stolperte, fing sich wieder und beschleunigte, hörte er doch diese gewaltigen Schritte in seinem Nacken, die immer näher kamen. »Du links, ich rechts!«, schrie er und warf Nate die lederne Geldbörse zu. »Wir treffen uns an der Lagerhalle, ich hänge sie ab!«
Nate knüllte den Geldbeutel in seinen Pullover, sah sich um und rannte in die abgehende Seitenstraße. Joel warf erneut einen Blick über die Schulter, stellte sicher, dass die Verfolger sich nicht aufteilten und nur an seinen Fersen heften blieben, und legte dann noch einmal an Tempo zu. Er war schon immer ein guter Läufer gewesen, bisher hatte er noch jeden abgehängt. Doch schon an der Ecke Greenwich Street wurden die Schritte hinter ihm unaufhaltsam lauter. Da war keine Energie in seinem Körper, da war nur die Tatsache, dass er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er prallte gegen Passanten, kam ins Taumeln und bog keuchend in eine Straße, in der Hoffnung, sich dort irgendwo verstecken zu können. Zu spät bemerkte er, dass es eine Sackgasse war.
Ein Tritt in die Nieren war die Art Schmerz, bei der man für einen Moment keine Luft holen konnte und nur noch schwarz vor den Augen sah. Ein Brennen zog sich wie lodernde Flammen durch Joels Körper und wurde bei jedem weiteren Tritt aufs Neue entfacht. Gespannte Fäuste trafen auf sein Gesicht, schleuderten seinen Kopf in alle Himmelsrichtungen. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus.
Als die Männer bemerkten, dass dieses verlauste Stück Dreck vor ihnen nicht mehr im Besitz der Geldbörse war, wuchs ihre Wut ins Bodenlose an. »Verdammter Wichser! Asoziales Pack!«, brüllten die tiefen Stimmen durcheinander, und Joel bekam den angestauten Hass mit noch viel härteren Tritten und Schlägen zu spüren. »Arbeiten sollst du, hast du gehört?« Die Fußspitze traf seinen Magen. »Stattdessen bestiehlst du rechtschaffende, ehrliche Mitbürger!« Spucke traf auf Joels Stirn, zog sich wie ein zähflüssiger, glänzender Schweif die Schläfe hinab und blieb an der Wange haften. »Einsperren sollte man dich! Aber die sogenannte Polizei hat ja besseres zu tun, als sich um die wirklichen Probleme der Stadt zu kümmern!« Wie eine deformierte Mehlpackung lag Joel am Boden und nahm die weiteren Tritte entgegen.
Als die Männer endlich von ihm abließen, verhallten die Schreie an den Wänden und Stille kehrte in der Gasse ein. Joels Wange ruhte auf dem kalten Kopfsteinpflaster und keinerlei Schmerz war mehr in seinem Körper. Er fühlte sich ganz leicht. Wie Wasser, das sanft durch die Finger rinnt. Er dachte an seine Mutter, an das von blonden Haaren
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