Dreimond - Das verlorene Rudel
der Feinde gebärdet hatte, um zu Carras zu gelangen. Er wagte nicht, ihn anzusprechen.
Da ging Fiona zu Serafin und beugte sich zu ihm. »Was … Was ist mit dir? Hast du … große … Schmerzen?«
Wortlos drehte der Wolfsmann ihr den Rücken zu. Unter seinem kurzen Haar, das ihm jemand mehr abgerissen als -geschnitten hatte, war das Brandmal der Schwarzen Sichel nur zu deutlich zu sehen.
»Hast du eine Ahnung, wo sie Carras hingeschafft haben könnten? Warum haben sie uns getrennt?«
Noch immer tat Serafin, als wäre sie Luft.
Lex sah die Kleine enttäuscht zu Boden blicken.
»He!«, mischte er sich ein. »Sie hat ihre Heimat verlassen, nur um dir beizustehen! Du schuldest ihr eine Antwort.«
Serafin fuhr herum.
»Pass auf, wie du zu mir sprichst, Lex …!«, forderte er mit mühevoll unterdrückter Wut. »Sonst garantiere ich für nichts.«
»Haben die dich hier in den Wahnsinn getrieben, oder was?«, fauchte der jüngere Wolfsmann zurück. »Wir sind deinetwegen hergekommen! Wie wär’s mit etwas Dankbarkeit?«
Serafin sprang auf, stürzte auf Lex und packte ihn am Kragen.
»Spinnst du? Lass ihn los!«, rief Fiona.
»Dankbar soll ich sein? Wofür?«, zischte Serafin und zog Lex’ Kopf dicht an den seinen. »Du hast alles nur noch schlimmer gemacht!«
Lex rang nach Luft – weniger wegen des festen Griffs, mit dem sein Leitwolf ihn umfasste, als aus Entsetzen über den tiefen Zorn in dessen Augen.
»Du bist mein Freund«, entgegnete er mit zitternder Stimme. »Ich wollte dir helfen.«
Ruckartig ließ Serafin ihn los. Noch immer lag Wut in seiner Stimme. »Indem du Carras hierher schleppst? Indem du ihn und das Mädchen allein mitten im Satorwald zurücklässt?«
Lex wusste nicht, ob die Tränen, die in seine Augen schossen, von Zorn oder Scham rührten. Er suchte nach Worten, als Fiona sich entschlossen zwischen ihn und Serafin schob.
»Nun sag’s uns endlich, damit wir dich verstehen. Was wollen die von Carras?«
Serafin wandte sich von den beiden ab. Er zögerte, blickte hinauf zu dem vergitterten Kellerfenster. »Die Kralle … Der Junge kennt ihr Versteck«, erklärte er kaum hörbar.
*
Carras zitterte am ganzen Leib. Verzweifelt rüttelte er an der Tür des Zimmers, in das sie ihn gesperrt hatten, schrie, man solle ihn gehen lassen. Er fühlte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, und hätte am liebsten laut losgeheult vor Schmerz, Wut und Enttäuschung.
Serafin … Als er ihn auf einmal wiedergesehen hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Im Bruchteil einer Sekunde war ihm klar geworden, wie sehr er ihn die ganze Zeit vermisst hatte. Er gehörte zu ihm. Egal, was geschehen war. Er war seine Familie.
Wie hatte er daran nur einen einzigen Augenblick zweifeln können? Und jetzt? Er konnte nicht anders, ein jammervoller Seufzer kam tief aus seinem Herzen. Wo war Serafin? Wo waren Lex und Fiona? Carras wischte fast grimmig ein paar Tränen aus seinem Gesicht, holte tief Atem und zwang sich zur Ruhe. Der Schwarze sollte ihn nicht umsonst gelehrt haben, in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Schau dich um , hörte er die tiefe wohlbekannte Stimme in seinem Kopf. Sieh, was sich ergibt …
Er befolgte den Rat seines väterlichen Freundes – und staunte. Um den ganzen Raum, den nur ein rundes, vergittertes Fenster erhellte, zog sich eine Art breite Holzbank, die über und über vollgestellt war mit Steinen, Zapfen, verdorrten Zweigen und einer Unmenge kleiner Figuren. Er trat näher und stutzte. Es war wie eine große, wilde Landschaft, aber eine, die nur auf den ersten Blick friedlich erschien. Rasch wurde ihm klar, hier hatte alles System – und hier herrschte Krieg.
Es gab eine große Anzahl schwerbewaffneter Zinnsoldaten und deutlich weniger aus Holz geschnitzte Wölfe, viele von ihnen gerade im Sprung und mit schaurig aufgerissenen Fängen. Wie zwei feindliche Heere im ärgsten Kampfgetümmel. Überrascht bemerkte er, dass die meisten Soldaten im Gegensatz zu den Wölfen umgefallen waren. Aber nicht nur das. Ihnen fehlten Arme, Beine, Köpfe. Die Gliedmaßen waren makaber zu Haufen geschichtet, auf denen jeweils Wölfe postiert waren. Eine Kampfszene reihte sich an die andere und immer wieder dieselbe Botschaft. Es gab keinen Zweifel, wer in diesem ungleichen Kampf am Ende die Sieger waren.
Er wandte sich kopfschüttelnd ab. Wer spielte ein so grausames Spiel?
*
»Ihr habt ihn in mein Zimmer gesperrt?«
Entrüstet
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