Dreimond - Das verlorene Rudel
der Anderswesen , eines der Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters, stets griffbereit, das sie beizeiten zu Rate zog, wenn sie das Verhalten der Wölfe richtig deuten wollte. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem Fiona das Lexikon auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Gerade war sie dabei gewesen, Serafin heimlich beim Holzhacken zuzusehen – natürlich nur aus rein wissenschaftlichen Gründen, und nicht etwa, weil er dabei ziemlich beeindruckend aussah –, als auf einmal lautes Lachen aus dem Forsthaus erscholl.
Dort beugte sich Lex, als sie in die Küche stürmte, angefeuert von Carras, der kichernd Beifall klatschte, über die Enzyklopädie der Anderswesen.
»Der Werwolf, zu deutsch Mannswolf, ist ein gar blutrünstiges Scheusal. Den, der einen Pakt mit Satan selbst eingegangen, wandelt das fahle Mondlicht in jene unheilvolle Kreatur, die Jungfrauen und schutzlose Kinder mit Haut und Haaren verschlingt. So höre nun, wie du ersehen kannst, ob womöglich auch dein Nachbar ein solch ruchloser Teufelsbündner ist …«
»Lex! Du kannst lesen?«, unterbrach ihn Fiona überrascht.
Der Wolfsmann blickte grinsend von dem Buch auf. »Na und?«
Nachdenklich wickelte sich Fiona eine Haarsträhne um den Finger. »Ich weiß nicht … Es passt nicht zu dir …«
Lex zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein paar Jahre bei einem sehr … fürsorglichen Mönch verbracht, der meinte, es nütze meinem Seelenheil, wenn ich Bibelverse pauke. Und nun zu dir. Du glaubst doch nicht wirklich an solche Ammenmärchen?«
Gereizt deutete er auf das Buch.
»Ich … Na ja … Nein, aber …«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, als Carras ungeduldig auf den Tisch trommelte. »Weiterlesen!«
»Nun gut«, erklärte Lex gönnerhaft, erhob sich und marschierte in betont großen Schritten mit dem Buch in der Hand im Raum auf und ab.
»Die Erkennungszeichen des garstigen Werwolfs . Hm … Mal sehen … Zeichen Nummer vier: grimmige Zornesfalten . Aha, so, so … Zeichen Nummer sieben: leichenblasse Haut. Und hier: Zeichen Nummer zehn: Lebt fernab von dem gemeinen Volk in düsterer Behausung … Mein Gott, Carras, pass bloß auf! Ich glaube fast, Fiona ist ein Werwolf!«
Genervt verdrehte sie die Augen.
Carras hielt sich prustend eine Hand vor den Mund.
»Lass sie zufrieden, Lex«, sagte Serafin schmunzelnd, der soeben in die Küche getreten war und sich lässig gegen den Türrahmen lehnte. Sein Hemd hatte er lose über die Schultern gelegt. Schweiß perlte über seine Haut.
Möglichst unauffällig betrachtete Fiona den Wolfsmann, als sich Carras an ihr vorbeischob.
»Serafin ist das nicht toll? Fiona ist ein Werwolf, wie wir«, rief er ausgelassen.
Mit einem Ruck drehte sich Lex um und marschierte auf den Wolfsjungen zu.
»Freu dich bloß nicht zu früh, Kleiner! Jetzt kommst erst einmal du an die Reihe.« Schon griff er nach Carras’ Hand.
»Erkennungszeichen Nummer 11: Blut unter langen Fingernägeln – Fehlanzeige! Höchstens Dreck, wenn ich das richtig sehe …«
Beleidigt zog Carras seine Hand weg.
Lex beugte sich, nun so richtig in Fahrt gekommen, zu ihm hinunter und begutachtete sein Gesicht.
»Keine zusammengewachsenen Augenbrauen, keine spitzen Zähne, nicht einmal Schaum vorm Mund!«, fuhr er fort. »Meine Damen und Herren, es ist bewiesen. Dieser Lockenkopf hier ist überhaupt kein Werwolf! Serafin, ich glaube, den lassen wir bei der nächsten Vollmondnacht zu Hause!«
Der Leitwolf nickte mit gespieltem Ernst. »Zu schade, aber da kann man nichts machen.«
»Ach«, maulte Carras. »Ich will aber ein Werwolf sein!«
Er erblickte die frische, mit einer dicken Rahmschicht versehene Milch auf dem Küchentisch, die Rosa am selben Tag vorbeigebracht hatte, wetzte darauf zu, schöpfte ein wenig aus der großen Kanne und schmierte sich davon um seinen Mund, ehe er zu Fiona rannte.
»Guck mal, ich hab’ Schaum vorm Mund – wie ein echter Werwolf. Los, hol dein schlaues rotes Buch und schreib es rein!«
»Da hinein werd’ ich gleich schreiben«, entgegnete sie, grinsend und schnippte Carras sanft gegen die Nase, »dass Erkennungszeichen 13 auf jeden Fall zutrifft: Werwölfe neigen zu wirrem, spastischem Gehabe! «
»Das ist Merkmal Nummer 15, Kleine!«, verbesserte Lex schulmeisterhaft, ehe er das Buch geräuschvoll zuklappte und ohne Vorwarnung in ihre Richtung warf.
Sie verlor bei dem Versuch, das schwere Lexikon zu fangen, beinahe das Gleichgewicht. Erleichtert, dass ihr diese Blamage
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