Dreizehn bei Tisch
gesehen und gesprochen haben, noch ein Alibi verlangen?«
»Eh bien, mein Freund, welches Ergebnis hat das Sehen und Sprechen gehabt? Wir erfahren, dass viel Leid und Kummer hinter ihr liegen; sie selbst gesteht, dass sie ihren Vater gehasst hat und froh über seinen Tod ist. Ferner zeigt sich einem scharfen Beobachter, wie sehr sie beschäftigt, was ihr Vater gestern Morgen mit uns besprochen hat. Und nach all dem wagen Sie zu sagen: Ein Alibi ist unnötig!«
»Ihre Freimütigkeit beweist ihre Unschuld«, verteidigte ich sie warm.
»Freimütigkeit scheint der hervorstechendste Charakterzug dieser Familie zu sein. Der neue Lord Edgware zum Beispiel – mit welch freimütiger Geste legte er seine Karten auf den Tisch!«
»Ja, das tat er wirklich!«, erwiderte ich und lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung. »Eine originelle Methode.«
Poirot nickte. »Er gräbt – wie ihr Engländer sagt – einem den Boden vor den Füßen weg.«
»Unter den Füßen«, verbesserte ich. »Ja, wir beide müssen ziemlich dumm ausgesehen haben.«
»Welch ein Einfall! Ich fühlte mich durchaus nicht dumm und werde deshalb auch schwerlich so ausgesehen haben, Hastings. Im Gegenteil, ich raubte ihm sogar die Fassung.«
»Wieso?«
»Ach, Hastings, Ihnen fehlt jede Beobachtungsgabe! Haben Sie nicht bemerkt, wie ich ihm zuhörte und zuhörte, bis ich schließlich mit einer ganz fernliegenden Frage dazwischenfuhr? Das hat unseren guten Monsieur ganz schön durcheinandergebracht.«
»Ich meine, seine Erschütterung und Überraschung über die Nachricht von Carlottas Tod seien echt gewesen.«
»Schwer zu sagen. Wie auch immer – was sagen Sie zu einem netten Dinner? Und hinterher, etwa um neun Uhr, können wir mit unsern Besuchen fortfahren.«
»Bei wem?«
»Erst den Hunger stillen, mon cher. Und bis wir unseren Kaffee trinken, werden wir den Fall nicht weiter erörtern. Während der Mahlzeit sollte das Hirn stets der Diener des Magens sein.«
Wir befahlen dem Chauffeur, uns zu einem kleinen Restaurant in Soho zu fahren, wo man uns kannte und ein zartes Omelette, eine Seezunge, ein Hähnchen und einen Rumpudding servierte.
Als wir den ersten Schluck Kaffee nippten und Poirot eine seiner dünnen Zigaretten rauchte, konnte ich meine Neugierde nicht weiter im Zaum halten. »Also«, fing ich an, »beschäftigen wir uns wieder mit dem Fall Edgware.«
»Eh bien.« Hercule Poirots Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, und langsam stieß er eine Rauchwolke nach der anderen aus. »Je me pose des questions.«
»Ja?«, fragte ich eifrig.
»Über die erste Frage haben wir uns bereits unterhalten: Warum Lord Edgware seine Meinung über die Scheidung änderte?
Die zweite Frage, die ich mir stelle, lautet: Was geschah mit jenem Brief? Wer hatte Interesse daran, dass Lord Edgware und seine Gattin die lästig gewordenen Ehefesseln noch weiterschleppten?
Frage Nummer drei: Was bedeutete das wutverzerrte Gesicht des Lords, das Sie gestern Vormittag beim Verlassen der Bibliothek zufällig bemerkten? Können Sie mir darauf eine Antwort geben, Hastings?«
Ich verneinte.
»Sind Sie wenigstens sicher, dass Ihre Einbildung nicht mit Ihnen durchging, mon cher? Bisweilen haben Sie eine reichlich lebhafte Fantasie.«
»Nein, nein.« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin sicher, dass ich mich nicht täuschte.«
»Bien. Dann ist es eine Tatsache, die der Erklärung bedarf. Meine vierte Frage gilt dem Kneifer. Weder Jane Wilkinson noch Carlotta Adams tragen eine Brille. Was haben also die Gläser in Carlottas Handtäschchen zu suchen?
Und meine fünfte Frage: Weshalb telefonierte jemand nach Chiswick, um herauszufinden, ob sich Jane Wilkinson unter den Gästen befand; und wer ist es gewesen?
Mit diesen Fragen schlage ich mich herum, mon ami. Wenn ich sie beantworten könnte, würde mein Kopf leicht und frei werden. Und wenn ich auch lediglich eine Theorie entwickeln könnte, die sie einigermaßen zufriedenstellend erklärt, würde meine Eigenliebe nicht so leiden.«
»Es sind nicht die einzigen Fragen, Poirot«, wandte ich ein.
»So? Haben Sie noch mehr?«
»Wer stiftete Carlotta Adams zu diesem verhängnisvollen Mummenschanz an? Wo hielt sie sich an dem Mordabend vor und nach zehn Uhr auf? Wer ist D. der ihr die goldene Dose schenkte?«
»Mein lieber Hastings, das sind doch plumpe, derbe Fragen nach Tatsachen, über die wir jede Minute Aufschluss erhalten können. Meine Fragen hingegen bewegen sich auf dem Gebiet der Psychologie.
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