Drift
wenigstens das, dachte er, aber Helena ahnte, was die Berührung auslösen würde, |248| wusste von der emotionalen Gefahr, zog ihre Hand schnell zurück und ging an ihm vorbei und tauchte in die Menschenmenge ein.
»Ankunft des Intercity von St.Gallen nach Zürich, Bern, Genf auf Gleis siebzehn«, dröhnte eine Stimme durch die Lautsprecher und holte Martin in die Realität zurück.
»Gott sei Dank bin ich high«, dachte er und versuchte, seine weichen Knie in den Griff zu bekommen, »nüchtern hätte ich das nicht überlebt.«
Er ging zum Zug, suchte sich ein Abteil im vordersten Wagen aus, wo er hoffte, unbeobachtet die eine oder andere Linie nehmen zu können, ohne jedes Mal das WC aufsuchen zu müssen, und seufzte laut, nachdem er sich ins Polster der Sitze hatte fallen lassen und das bewegte, hektische Bild beobachtete, das sich ihm durchs Fenster bot.
»Bye-bye«, dachte er und meinte damit beide, die Stadt und Helena, und flüsternd fügte er hinzu: »See ya when I see ya.«
|249| BIERFLASCHEN
»Komm, mein Alter«, sagte der erste Offizier und schüttelte Martin. Dieser zeigte jedoch keine Reaktion und der Seemann wurde laut und schüttelte ihn heftiger.
»Hallooo, Martin, aufwachen!«
Langsam, in Zeitlupe, hob Martin den Kopf.
»Na los, Junge, komm, ich geb dir einen Kaffee aus.«
Toni, der erste Offizier, fasste Martin am Oberarm und half ihm auf die Beine und durch das überdachte Oberdeck zur Bar der Fähre.
»Ivo, mach meinem Freund einen starken Doppelten auf meine Rechnung. Und ein großes Glas Wasser dazu, bitte.«
Martin hockte sich auf den angewiesenen Barhocker und stützte den Kopf in die Hände.
»Ich bin total voll«, konstatierte er lallend und lachte auf.
»Ich weiß«, sagte Toni und drückte ihm das Glas Wasser in die Hand, das Ivo, der ältere Barkeeper, auf die Theke gestellt hatte.
»Los, austrinken, auf ex, keine Diskussion.«
Martin sah vom Glas zu Toni und zurück. Er setzte an und trank den halben Liter Wasser mit wenigen Zügen aus und gab Toni das Glas stöhnend zurück.
»Aah, das hat gut getan.«
»Schau, das hier ist noch besser«, sagte Toni und schob Martin die dampfende Tasse Kaffee hin. »Zucker?«
Martin nickte und Toni gab Zucker und Rahm in Martins Kaffee, rührte um und blies sogar pro forma hinein.
»Los, trink!«
Martin setzte die Tasse an, zwinkerte Toni zu und kippte den brühend heißen Kaffee hinunter. Er spürte dabei keinen Schmerz.
»Happy?«, fragte er und Toni schüttelte den Kopf. Er nahm eine Packung Marlboro Rot hervor, steckte Martin eine Zigarette in den Mund und gab ihm und sich selbst Feuer.
|250| »Super«, sagte Toni, »hast du toll gemacht, ganz toll.«
Der Kaffee und das Wasser zeigten sofort Wirkung und ein paar Züge von der Zigarette später war Martin wieder einigermaßen bei sich und sog den Rauch in seine Lungen, als hinge sein Leben davon ab.
»Kann ich zuschauen?«, fragte er, drehte sich auf dem Hocker ganz zu Toni um und grinste ihn an.
»Du bist voll am Arsch«, sagte Toni und lachte, »echt total am Arsch.«
»Ja oder nein?«
»Von mir aus. Aber halt bloß die Klappe.«
Wieder beobachtete Martin das Anlegemanöver von der Brücke aus, dieses Mal im Dunkeln, was noch beeindruckender war.
Er verabschiedete sich vom Kapitän und vom ersten Offizier und verließ die riesige Stahlbarke. Seine Vernunft sagte »Nach Hause, sofort!« – sein betrunkenes Gehirn hörte die Musik aus den Gassen bis an den Hafen plätschern und er gab nach, der vergnügungssüchtigen, nicht der vernünftigen der beiden Stimmen.
Durchs zweite Stadttor über die Piazza und den Kirchenplatz mit den Museen und Cafés hinein ins älteste Stadtquartier, das aus Steinhäusern und schmalen und schmalsten Gässchen bestand, in denen er sich an den Leuten vorbeidrückte, die draußen an den Tischchen der Bars saßen und den Passanten keine zwei Meter Platz zum Vorbeigehen ließen, bis er es durch die Knotenpunkte geschafft hatte und ans Ende des Varos genannten Quartiers gekommen war, wo es einen Punkladen gab, in dem er seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Er setzte sich draußen hin und trank Bier und beobachtete die vornehmlich 17- bis 19-jährige Kundschaft, bis der Kellner kam und verkündete, man müsse rein, allesamt rein oder ab nach Hause.
Die Wände im Inneren waren schwarz, viel Holz, schwere, massive Tische und Stühle, Punks, Waver und Rocker in Leder und schwerem Tuch. Und Martin in hellen Shorts und buntem T-Shirt.
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