Drift
erwischt habe, fragt man und meint den serbischen Kommandanten. Marko nickt. »Ihr habt vier Offiziere erwischt, du einen, Antun einen und der von der zweiten Gruppe sogar zwei. Mit sieben Leben habe man dafür bezahlt, sagt Marko. Man will Marina sehen, sagt man. Sie sei in einem anderen Spital. Sie sei nach Rijeka verlegt worden. Wie es ihr geht, will man wissen und Marko sagt, gut. »Sie ist okay, sie hat überlebt.« Mehr will er einem nicht erzählen.
Der Arzt sagt, man könne in einem Monat raus. Man zählt die Tage, die Stunden. Hinkt nach zwei Wochen durch die Gänge. Sitzt nach drei Wochen mit anderen Überlebenden bei Kaffee und Zigaretten. Manche haben ein Auge, einen Arm, ein Bein oder mehr verloren, niemand mag reden. Es wird geschwiegen, einige spielen Karten. Am Radio verfolgt man die Entwicklung des Krieges. Es wird immer schlimmer. Die Vereinten Nationen tun nichts. Fotzen.
Marko besucht einen, zwei Wochen bevor man entlassen wird. Er habe die Pistolen zurückgebracht. Die Anzeige gegen einen sei fallengelassen, das Auto vom Vater und dem älteren der beiden Brüder abgeholt worden. Man solle nach Hause und die Schule beenden. Die Familie will einen besuchen, aber man beharrt darauf, dass ihnen nicht gesagt wird, wo man ist. Man telefoniert mit der weinenden Mutter und beruhigt sie. Man sei okay. Nein, keine bleibenden Schäden, nichts dergleichen, für eine ernsthafte Verletzung sei man einfach immer viel zu dumm gewesen. Außer einem leichten Hinken, das vermutlich bleiben wird, sei man okay.
Marko gibt einem Marinas Adresse in Rijeka. Man will sie sehen, |270| so schnell wie möglich. Sie hat keinen Telefonanschluss dort, wo sie wohnt. Marko sagt, sie sei bei einem Freund untergekommen, er habe sie nicht mehr gesehen, seit sie entlassen worden sei. Er umarmt einen, dann geht er zurück an die Front. Man solle ihm versprechen, dass man auf sich aufpassen wird. Man tut es, verspricht ihm, was er will, und nimmt ihm dasselbe Versprechen ab. Er ist ein Bruder. Ein dritter Bruder, den man nie wiedersehen wird. »Da gibt es noch etwas«, sagt er, »was ich dir sagen muss, bevor du zu Marina gehst.« Man schaut ihn schweigend an, auf alles gefasst. »Sie hat ihren linken Unterarm verloren. Sie mussten oberhalb des Ellbogens amputieren.« Tränen. Man kann sie nicht zurückhalten. Marina ohne linken Arm? Man sucht in Markos Augen nach Trost, aber er kann einem keinen geben, er ist selber leer und ausgebrannt; eine letzte Umarmung und er ist verschwunden. Eine Woche später wird man entlassen. Man setzt sich in den ersten Bus, der nach Rijeka fährt.
Der Busfahrer hüstelt ins Mikrofon und kündigt an, dass er einen Umweg fahren muss, ein schwerer Autounfall blockiert die Hauptstraße.
Er muss die alte Straße über die Berge nehmen, die durch winzige Ansiedlungen und Dörfer über den Velebit hinunter nach Senj führt. Wieder Senj. Es scheint einen direkten Zusammenhang zwischen den Bubenträumen bei der Lektüre der »Roten Zora« und dem Leben in späteren Jahren zu geben. Wie wurde man von einem Deutschlehrer gewarnt, dem einzigen Lehrer, dem wirklich etwas an einem gelegen war? Man solle aufpassen, hatte er gesagt, dass man die Geschichten, die man schreibt, nicht nachzuleben beginnt. Man erinnert sich noch genau, wie man darauf reagiert hat. Halb verwundert, halb belustigt fragte man ihn, ob er das wirklich ernst meine. Er sagte mit so viel Ernst in Stimme und Augen, wie man sie noch nie gesehen hatte: »Ja, absolut ernst.«
Man beließ es damals dabei, hakte nicht nach. Aber die Worte |271| brüteten im Hirn weiter und irgendwann begriff man, dass tatsächlich ein großes Stück Wahrheit in dem Satz lag. War denn das Schreiben nicht ein Ausdruck des Unbewussten? Und wenn ja, dann war ein gewisser Zusammenhang zwischen zu Papier gebrachtem Unterbewussten und später gelebtem Unterbewussten nicht von der Hand zu weisen.
Während man die vorbeiziehende Landschaft betrachtet, überlegt man, versucht, sich an eine Geschichte zu erinnern, die einen in den Krieg führte. Aber es kommt nichts. Man hat nie so etwas geschrieben; das Leben hat einen hierher geführt, so nahe an den Tod heran wie nur denkbar. Was hält es noch in petto? Was soll man mit der Zukunft anfangen? Man kann sie schließlich nicht einfach wegzwinkern wie die Gesichter noch vor ein paar Wochen. Aber auch damit ist es vorbei und seit den ersten Tagen im Spital gibt es kein Halten mehr, was die Heimsuchungen im Inneren
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