Drift
betrifft, die Bilder, scheinbar nur da, um einen zu foltern.
Und es sind mehr als nur die Bilder. Die Töne, die Tonspur zum Film macht einem noch mehr zu schaffen als die Bilder alleine. Es ist wie bei jedem Streifen, ob er nun im Kino oder im Fernsehen oder im Kopf läuft; erst mit dem Ton wird es richtig gruselig. Und bei den Bildern, die einen verfolgen, kaum schließt man die Augen, handelt es sich nicht nur um kraftvolle, sondern grausame Bilder, dazu geeignet, einen in den Wahnsinn zu treiben.
Man freut sich darauf, Marina endlich in die Arme schließen zu können. Vielleicht werden einen die Bilder für eine Nacht in Ruhe lassen, wenn man neben ihr einschläft. Man kann nur hoffen. Die Angst, dass einen der Horror nie wieder loslassen wird, ist ebenso real und brutal wie der Schmerz, den die Bilder auslösen. Wie soll man je wieder ein normales Leben führen? In einer zivilen Gesellschaft funktionieren? Wie viele Generationen sind durch diesen Krieg verloren worden? Nicht die Toten sind es, die leiden. Es sind die Überlebenden. Sie werden Familien gründen und das vom Krieg |272| verstümmelte Land wieder aufbauen. Wie tief die Verletzung sein wird, bleibt abzuwarten. Was für Kinder werden die vom Krieg gegeißelten Mütter und Väter großziehen? Was für Gutenachtgeschichten werden sie ihren Kindern erzählen? Wie tief wird der Hass auf den Feind verwurzelt sein, wie lange wird es dauern, bis die Kinder und die Kindeskinder der beiden Völker wieder miteinander kommunizieren können?
Vertrauen, ins Leben und die Liebe, schwach und bröckelnd schon vor dem Krieg, ist jetzt mehr eine Erinnerung an ein Gefühl als etwas Reales. Natürlich empfindet man Zuneigung für Marina. Aber ist es nicht eher Sehnsucht nach Vergessenkönnen? Und sei es nur für die Dauer der körperlichen Erregung? Das ist keine Liebe, das ist Verlangen nach Auflösung, nach Verschmelzen zu einer erinnerungslosen Einheit, einer Einheit ohne Vergangenheit, dem Schaffen einer neuen, hell leuchtenden Seele, die keine Abgründe kennt und keine Schreie hört, keine Detonationen von Minen und Granaten, keine Explosionen von Munition und den dumpfen Kugelhagel, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und gleichzeitig Adrenalinkicks verabreicht, dass einem fast das Herz explodiert, und während man denkt, das Donnern hört und die Blitze sieht, bleibt einem der Atem weg, man verkrampft sich, die Kehle schnürt sich zu, man windet sich, greift sich an den Hals, aber es ändert nichts; Panik! Wegzwinkern ein hilfloser Versuch, der nichts bringt, das ist nicht gut, ganz und gar nicht, denkt man, gleich wird man ersticken! Eine Frau beugt sich über die Lehne des Sitzes vor einem, etwa fünfzig, sie sieht, was los ist, steht auf und setzt sich wortlos neben einen. Während man hilflos nach Luft schnappt, nimmt sie die Linke mit beiden Händen. »Ruhig«, sagt sie, »nicht verkrampfen.« Man möchte antworten, klar, das ist eine gute Idee, aber man bringt keinen Ton heraus und starrt sie mit offenem Mund an, gleich wird man ersticken, denkt man und hat Angst, und es ist ein furchtbares Gefühl, die Hilflosigkeit, man fasst sich mit der Rechten an die Kehle, drückt zu, reibt, glaubt, so vielleicht den Krampf |273| lösen zu können, aber es ist die Stimme der Frau, die einem das Leben rettet, sie spricht weiter in einem ruhigen, weichen Ton: »Entspann dich, Junge, komm, mach die Augen zu und denk an etwas Schönes …«
Man tut es, jetzt schon kurz vor der Bewusstlosigkeit, und als man schon glaubt, ohnmächtig zu werden, kommen Bilder von früher, man hängt im Trapez an der Gabel des Surfsegels, donnert über die Wellen, schnell und leicht wie eine Schwalbe, und die Stimme der Frau wird zum Heulen des Windes, der einen auf sechzig Kilometer pro Stunde beschleunigt, und als man abfällt und einen Bogen macht, um eine Welle als Schanze zu nehmen, beginnt sich der Krampf langsam zu lösen, und kaum ist man in Gedanken samt Brett und Segel in der Luft, laut jauchzend, sind die Atemwege wieder offen und man saugt die Luft in sich hinein, wie ein Staubsauger, laut, verzweifelt, tut einen nie enden wollenden Atemzug. Man öffnet die Augen und atmet langsam aus, unsicher, ob man einen zweiten Atemzug wird nehmen können, aber man blickt in die grünen Augen der Frau, die einen liebevoll ansehen, und vergisst auf der Stelle, dass man vielleicht nicht wird atmen können. »Gut so, Junge, beruhige dich«, sagt sie und man nickt nur, ihre
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