Drift
Hand immer noch fest umschlossen. »Danke«, flüstert man und sie streicht einem mit der freien Hand über die Wange. »Geht’s wieder?« Man nickt langsam. »Das wird schon wieder, Junge, das wird schon wieder. Und denk dran: Es gibt immer einen schönen Gedanken, egal, was um uns herum passiert.« Man nickt erneut und sie lässt langsam die Hand los. »Pass auf dich auf.« Sie steht auf, macht eine beruhigende Geste in Richtung der zwei Männer, die ebenfalls aufgestanden sind, um zu sehen, was los ist, und alle setzen sich wieder hin.
Man schließt die Augen, hört das Herz hämmern und beginnt es mit gleichmäßigem Atmen zu beruhigen, langsam ein- und ausatmen, wieder auf dem Surfbrett, wieder ein Wilder beim Spiel mit der Natur.
|274| Irgendwann sieht man das Meer. Man hat nicht realisiert, wie weit über dem Meeresspiegel man sich befindet. Als man den Fahrer fragen will, ob er eine Pause einlegen könnte, kommt er einem zuvor. »Zehn Minuten Pause«, verkündet er über die Lautsprecher und biegt kurz darauf ab und hält auf dem Parkplatz eines Restaurants, das zum Meer hin ausgerichtet ist und eine atemberaubende Aussicht bietet. Man steigt aus, zündet sich eine Zigarette an und wartet auf die Frau, die einem geholfen hat, nicht zu ersticken, und man fragt sie, ob man sie auf einen Kaffee einladen dürfe, zum Dank. Sie ist erstaunt darüber, willigt aber ein. »Danke, mein Junge, gerne«, sagt sie und lächelt milde.
Man setzt sich mit ihr auf die Terrasse, bestellt einen Kaffee und ein Bier für sich selbst und sie schweigt, bis der Kellner beides auf den Tisch gestellt und kassiert hat. »Pass auf damit«, sagt sie und zeigt auf das Bier. Wäre es die eigene Mutter, man würde sich über den Kommentar aufregen, denkt man, bei der fremden Frau hingegen nimmt man es gelassener, was dumm und genau verkehrt herum ist. Man nickt. Nimmt einen großen Schluck. Das erste Bier seit über einem Monat. Sofort wird es einem warm ums Herz, als die euphorisierende, entspannende Wirkung des Alkohols eintritt, und man weiß, dass er keine Probleme löst, das nicht, aber als Stoßdämpfer funktioniert er einwandfrei.
Man spricht nicht, sitzt schweigend neben der Frau und schaut aufs Meer hinunter. Die Inseln liegen kahl und wie achtlos hingeworfen da, weiße Flecken auf der ruhigen, hellblauen Fläche, und man schwört sich, dass man sie eines Tages besuchen wird. »Gehen wir«, sagt die Frau und legt einem die Hand auf den Unterarm. Man kommt nur widerstrebend aus dem Traum zurück, leert das Bier in einem Zug und sagt: »Okay.«
Die Straße führt nicht nach Senj hinein. Aber man fährt nahe an der Burg der Roten Zora vorbei, die aus dieser Distanz und bei Tageslicht besehen erstaunlich klein ist. Am Meer angekommen, biegt |275| der Fahrer nach rechts ab und passiert eine Minute später die schmale Straße, die von der Hauptstraße wegführt und auf der man vor zwei Monaten vom Militär aufgegriffen worden ist; vage Erinnerungen. Der Soldat mit den Narben. »Geht die eine, kommt die andere, die Richtige«, hat er gesagt und man fragt sich, ob es Marina sein könnte – die Eine, die Richtige.
Keine Frage, denkt man, sie könnte es sein. Sie wird es sein, sie soll es sein, man liebt sie. Liebt sie wie keine andere zuvor. Man sieht während der nächsten halben Stunde nur ihr Lächeln, nicht das schmerzverzerrte Gesicht, das einen seit Wochen verfolgt, doch irgendwann hört man den Satz, den Marko zum Schluss gesagt hat: »Sie hat ihren linken Unterarm verloren.« Man versucht, sich den amputierten Arm vorzustellen, schafft es aber nicht. Tränen steigen einem in die Augen. Hätte man sie retten können? Den Arm retten können? Man weiß es nicht. Die Erinnerungen kommen nur langsam zurück, vermutlich auch, weil man sich gar nicht erinnern will.
Die Augen kehren von ihrem Endlosblick zurück und fokussieren auf die Stadt, durch die man fährt. Betriebsamkeit, Normalität; der Krieg hat Rijeka bisher verschont.
Der Bus hält an und man verabschiedet sich von der Frau, nachdem sie einem erklärt hat, wie man die Straße findet, in der Marina wohnt. Mit dem kleinen Rucksack, in dem sich ein paar Kleider, die Papiere und der Revolver befinden, den Marko als verlorengegangen gemeldet und einem als Abschiedsgeschenk mitgegeben hat mit den Worten: »Den hast du dir verdient«, macht man sich auf die Suche nach dem Quartier und dann nach der Straße und dem Wohnblock. Man muss zwei Mal nach der Richtung fragen,
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