Drift
»Sonst gehen wir beide in den Knast.« Man will das nicht, es ist einem egal, ob man ins Gefängnis geht, aber Marina auf eine Parkbank legen, das will man nicht, es ist erst nach ein paar Linien Heroin, dass man wieder klar sieht und der Kopf realistisch räsoniert: Marina ist tot. Ihr Körper bringt einen selbst und Zeljko mit größter Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis. Man weiß, was Marina gewollt hätte, und es ist das, was Zeljko vorschlägt. Man sagt ihm, er solle im Wohnzimmer warten, während man sie anzieht. Man sucht die schönsten Sachen aus ihrer Tasche, zieht sie an, ununterbrochen am Weinen, ununterbrochen das Mantra vor sich hinbetend, jetzt mit dem Zusatz: »Bitte verzeih. Ich liebe dich, Marina, bitte verzeih.«
Mitten in der Nacht nimmt man sie, trägt sie zum Aufzug, dann hinter Zeljko her bis zum Stadtpark, was schwierig ist, weil sie keinen zweiten Arm hat, den sich Zeljko um den Hals legen und so beim Tragen mithelfen kann. Man will sie nicht zurücklassen, kann einfach nicht, aber Zeljko zerrt einen weg. An der nächsten Telefonzelle wählt er eine Nummer und sagt, ein Mädchen liege bewusstlos auf einer Bank im Stadtpark. Minuten später Sirenen, und man weiß, dass ihr Körper den üblichen Weg gehen wird; Krankenhaus, Leichenhalle, Krematorium.
Sie hat keine Familie mehr, man will Marko anrufen, aber der ist |283| an der Front. Es bleibt einem nichts weiter übrig, als sich von Zeljko mitzerren zu lassen, zurück in seine Bude, wo man sich zudröhnt, zudröhnt, bis man einschläft, in ihrem Bett, gehüllt in ihren Duft, die einzige gemeinsame Nacht in einer Endlosschleife, eine Ewigkeit zusammen, und man besucht sie im Schlaf, sieht sie im Traum, sie trägt ein geblümtes Kleid, sie tanzt und lacht, man rennt ihr auf einer ungemähten Wiese hinterher, sie bleibt stehen, küsst einen, und wie sie einen küsst, hört man sie sagen: »Danke. Danke für alles.«
Der Schlaf danach ist weich und sanft.
Man lässt sich durch den Kopf gehen, was Zeljko vorschlägt. Eigentlich hätte Marina gehen sollen, aber Marina ist tot und ihn würden sie an der italienischen Grenze rausnehmen, garantiert, sagt er, und man sagt sich, warum nicht. Zehntausend Mark, etwa achttausend Franken – davon könnte man eine Weile leben. Dass man erwischt und ins Gefängnis gesteckt werden könnte, ist einem seltsamerweise vollkommen egal. Und so steckt man die großen Packen unter die Kleider in den Rucksack, kauft sich eine Karte und wartet auf den Bus nach Zürich. Wenn sie mit Hunden kommen, wandert man in den Knast. Machen sie Personenkontrollen und durchsuchen das Gepäck, wandert man in den Knast.
Die Slowenen lassen den Bus erstaunlicherweise unbesehen passieren. Vermutlich interessiert sie mehr, was die Leute versuchen ins Land zu bekommen, als raus aus dem Land. Die Italiener schauen genauer. Nehmen ein paar Koffer aus dem Kofferraum. Lassen einen nur den Pass zeigen. Keine Hunde. Also auch keine Panik. Man wird nicht erwischt werden. Nicht nach all dem, was man durchgemacht hat. Und der Bus fährt tatsächlich an. Nach Italien hinein, die Nacht durch Italien und gegen Mitternacht ist man an der Schweizer Grenze. Alles aussteigen. Personenkontrolle. Der Busfahrer schüttelt einen wach: »Komm, Junge, draußen Papiere zeigen.«
Man folgt ihm nach draußen, wo Schweizer Zöllner unfreundliche |284| Gesichter machen. Man geht, ja torkelt direkt auf den ersten Beamten zu und zeigt ihm den Pass. Wird gefragt, ob man Gepäck habe. Er zeigt auf den Kofferraum, aus dem alles ausgeladen und den jeweiligen Personen zugeordnet wird. »Nein«, sagt man, »nur ein Rucksack oben in der Gepäckablage.« Ob man ihn holen solle. Der Zöllner sieht einen scharf an. »Nein?«, sagt man und fragt, ob man weiterschlafen könne. »Vai, vai«, sagt er, geh, geh. »Primo una cigaretta«, sagt man, stellt sich neben ihn und zündet sich eine Zigarette an. Man bietet ihm ebenfalls eine an, aber er lehnt kopfschüttelnd ab, und so steht man neben ihm und sieht zu, wie die Landsleute durchsucht werden, während italienische Reisebusse unbesehen passieren. Das Herz klopft zwar ein wenig schneller als sonst, aber das rührt nicht von der Situation mit dem Heroin her, seltsamerweise, sondern vom Anblick, der sich einem vor dem Bus bietet. »Buona notte«, sagt der Zöllner und man betritt den Bus und macht es sich auf dem schmalen Sitz wieder so bequem, wie es geht, und schließt die Augen.
Das nächste Mal, als man sie öffnet,
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