Drift
Aber vielleicht lag es gar nicht am Energielevel, sondern eben doch nur daran, dass er kein Geld und dementsprechend keine Zukunft zu offerieren hatte, nicht einmal nichts Besonderes, das, was jede sich Frau wünscht: Geborgenheit, ein Mindestmaß an finanzieller Sicherheit, Zuverlässigkeit und dann noch ein paar Kinder. Ha! Klar doch, gerne; vier kleine Flaschen Tsingtao, ein halbes Gramm Koks und ein ganzes Gramm Heroin. Das war sein Ausmaß an Sicherheit.
Er schob die Hälfte des braunen Pulvers zum weißen Haufen und vermischte, verschnitt die beiden Substanzen mit beinahe andächtigen Gesten – wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wäre er nie mit Heroin in Kontakt gekommen? Eine dumme, überflüssige Frage, auf jeden Fall. Und trotzdem spannend; er hätte entweder jemanden umgebracht oder wäre mit großer Wahrscheinlichkeit einfach wahnsinnig geworden und in einer Klapse gelandet, wo sie ihn mit Neuroleptika und weiß Gott was noch vollgepumpt und kaltgestellt hätten und wo er wirre Geschichten zum Besten gegeben hätte; sie hätten ihn vergiftet, ihm nach und nach den Verstand geraubt; nie hätte er das Leben führen können, das er sich eine Zeit lang geleistet hatte, er hätte nie eine Frau wie Helena kennen und lieben gelernt – und er wäre nie von einer Frau wie ihr zurückgeliebt worden.
Nein, rückblickend hielten sich die positiven und die negativen Aspekte des Heroinkonsums die Waage, was bedeutete, dass es Dinge gab, die es so brachten, dass sie all die weniger schönen Seiten |288| wie die Entzüge, Kotzereien, Krämpfe, tagelangen Durchfall, Besorgungsstress und die Scheißschwitzerei locker aufhoben und bei genauerer Betrachtung sogar übertrafen, weil man es doch jedes Mal wieder tat, als hätte man keine Ahnung von der Scheiße, die zwangsläufig auf der anderen Seite auf einen wartete.
Und Arbeiten wäre unmöglich gewesen; nie im Leben hätte er seine Alltagssorgen, seinen lethalen Herzschmerz und den vollumfassenden Verlust des Vertrauens in seinem Leben so konsequent abschwächen können – wenigstens für die Dauer der Wirkung der Droge und des Schaffens.
Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Drauf und dran, alles zu verlieren, musste er sich nach jeder Linie minutenlang auf die Uhr an seinem Handgelenk konzentrieren, damit ihm die reale Welt nicht entglitt: Freds Wohnung, sein letzter Abend, noch ein bisschen Drogen, dann Abdrücken. Zehn Jahre, dachte er, was waren zehn Jahre? Zehn Jahre waren vergangen, seit Marina auf einer Parkbank gefunden worden war, sieben, seit Helena sich für ihn entschieden hatte, nicht ganz ein Jahr, seit sie ihn rausgeschmissen hatte, aus ihrer Wohnung, aus ihrem Leben und wohl auch aus ihrem Herzen, sieben Monate, seit er in Freds Wohnung wohnte.
Eine Stunde noch und dann würde alles vorbei sein. Was der Krieg bei Julien nicht hinbekommen hatte, würde er mit dessen gestohlenem Revolver schaffen: ein Ende. Einen Neuanfang. Was wohl wartete, auf der anderen Seite? Er würde sehen oder nicht. Schlimmer als sein jetziges Leben konnte es nicht sein, auch wenn da nichts war. Und wenn es genauso schlimm war, dann spielte es ja keine Rolle. So wie kein Menschenleben eine Rolle spielte. Sah man sich die Erde nur schon vom Mond aus an, waren da keine Menschen. Da gab es Kontinente und Meer und Wolken und einen Hauch Atmosphäre. Aber dass da Menschen waren, sah man nur, wenn man ein Fernglas auf die Chinesische Mauer richtete und wusste, was sie war und dass Menschen sie gebaut hatten. Nein: |289| Ein Blick auf die Welt vom Mond aus bestätigte das, was wirklich war: Die Menschheit spielte nur für sich selbst eine Rolle.
Dieser Gedanke tat ihm gut, beruhigte ihn. Er würde seiner Familie weh tun, aber ob er es selbst tat oder von einem Ziegel erschlagen wurde, der von einem Dach fiel, lief auf ein und dasselbe hinaus. Nein, es spielte keine Rolle, ob er lebte oder nicht. Es spielte keine Rolle, weil die Willkür zu groß war. Und er nahm eine dicke Linie vom Gemisch und er war sich sicher: Selbstmord war kein Mord, es war ein Schritt, der einem offenstand – nichts sprach dagegen, nichts außer ein paar Schuldgefühlen, die man noch in der Primarschule im Religionsunterricht eingebleut bekommen hat, von Vertretern einer Institution, für die er nichts übrig hatte. Zwar liebte er die Gebäude, liebte die Ruhe und die Erhabenheit, die Kirchen ausstrahlten, aber ihre Verwalter und Interpreten – nein, sie hatten kein Recht, sich in sein Leben
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