Drift
einen dummen Kommentar!« Ein schwaches Lächeln. »Stimmt’s? Du hättest mir garantiert eine geknallt«, fragt man und das Lächeln wird breiter und sie nickt. »Stimmt.«
Man nimmt ihr Gesicht in die Hände und küsst sie sanft, dann immer heftiger, und als man ihr den Pullover über den Kopf zieht, wehrt sie sich nicht, sondern flüstert nur: »Mach bitte das Licht aus.«
Zeljko klopft an die Tür. »Kommt, Kinder, Frühstück steht auf dem Tisch!«
Man öffnet die Augen, nicht fähig, sich zu bewegen. Marina liegt mit dem Rücken zu einem auf der Seite, zugedeckt bis zum Kinn. Man legt ihr den Arm auf die Schulter, rutscht näher an sie ran und entfernt die Bettdecke ein Stück weit, als der Bauch ihren Hintern berührt, der eiskalt ist. Man kennt eiskalte Hintern bei Frauen, also drückt man sich dagegen, um sie aufzuwärmen, fasst ihr an den Busen und auch der ist kalt, ein Gedanke schleicht sich an und man will ihn nicht haben, aber als man flüstert »Marina!« und ihr das Haar aus dem Gesicht streicht, merkt man, dass etwas nicht stimmt und der Gedanke springt einem ins Gesicht und wird zur Gewissheit, man dreht sie um und sie ist aschfahl, fast blau um die Lippen und man springt auf, setzt sich auf sie, fasst ihr an den Hals, legt das Ohr auf ihre Brust und da ist kein Puls und die Kälte ihrer Brüste, die man im Gesicht spürt, jagt einem einen Schauder über den Rücken und im Kopf schreit der Gedanke, jetzt absolute Realität: Sie ist tot! Sie ist tot! Sie ist tot! Und auf den stummen Schrei im Kopf folgt der körperliche Aufschrei, der aus einem herausbricht, dass die Wände zittern und Zeljko ins Zimmer gestürmt kommt: »Marinaaaaaaaaaaaaaa!«
|281| Auf dem Boden von Marinas Zimmer, gegen die Wand gelehnt. Marina auf dem Bett. Zeljko, der rein und raus geht. Er redet ununterbrochen. Man sieht nur, dass sich seine Lippen bewegen, man hört ihn nicht. Die Zeit ist stehengeblieben. Es gibt keine Zeit. Der Kuss, die gemeinsame Nacht, die Bilder aus dem Krieg, alles gegenwärtig, alles real und nicht, beides zur gleichen Zeit. Gleichzeitig. Marina ist tot und sie lebt. Man selbst ist tot und lebt. Gleich wird man aus dem Traum erwachen. Man wird in der Schweiz mit einer schweren Grippe und vierzig Grad Temperatur im Bett liegen und erwachen, wenn einen die Mutter schüttelt, damit man ein wenig Gemüsesuppe isst, man wird im Spital erwachen, nach einer Nacht im Schnee in den Bergen mit Lungenentzündung eingeliefert, man wird aus dem Autowrack geborgen werden, das über die Klippen gestürzt ist beim Überqueren der Grenze, man wird zu sich kommen, nachdem die Kugeln entfernt worden sind, die Soldaten auf einen abgefeuert haben, weil man bei der Straßensperre zu spät gebremst hat, man wird zu sich kommen irgendwo, irgendwann, nur nicht in Rijeka in Zeljkos Wohnung, weil sollte man dort zu sich kommen, ist Marina tot, und das kann, darf nicht sein, Marina lebt, sie hat einen Arm verloren und sie hat ihn nicht verloren, man kann sie leben lassen, man kann, wenn man wirklich glaubt und der Gedanke stark genug ist, um sie aus dem Zustand des Möglichen, dem Zustand der lebenden und toten Marina in die Realität der lebenden Marina zu holen, und man spricht aus, was man denkt, was man daran merkt, dass der hin und her rennende Zeljko vor einem stehenbleibt und in die Knie geht, man redet mit ihm und mit Verspätung kommen die Worte bei einem selbst an, das aber erst, nachdem er schon wieder aufgestanden ist und wieder hin und her tigert, die Arme schwingend. »Sie ist nicht tot«, hat man gesagt, ganz deutlich. »Sie ist nicht tot.«
Man schleppt sich auf Knien zum Bett, um sie wachzuküssen, aber sie reagiert nicht, öffnet die Augen nicht, man will ihre Hände nehmen und sie sich an die Wange drücken, aber da ist nur eine |282| Hand, ein Stummel, wo der linke Arm war, und als begreife man zum ersten Mal, dass man nicht wahr werden lassen kann, was man sich wünscht, auch wenn man es sich mehr als das eigene Leben wünscht, man kann es nicht, man hat nicht die nötige Kraft dazu und wird sie nie haben, und man fängt an zu heulen, zu schreien, sie sei tot, bis Zeljko einen von hinten umarmt und zudrückt, so stark er kann, drückt, bis aus dem Schreien ein Wimmern geworden ist und aus dem Wimmern ein Mantra: »Marina, verzeih … Marina, verzeih … Marina, verzeih …«
Er will sie in den Stadtpark bringen oder runter ans Meer, sie dort auf eine Bank legen und die Ambulanz rufen.
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