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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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noch Fotos machen musste, last minute, sozusagen, und natürlich auch, um vor der Präsi das Französisch noch ein wenig aufzufrischen und nach einer geruhsamen Nacht im Hotel stressfrei um acht Uhr morgens beim Kunden auf dem Parkett stehen zu können, bereit, ihnen die Welt zu verkaufen.
    Die Sitzung würde lange dauern und der notorische Peugeot des Art Directors bei der Abfahrt in Richtung Zürich leider einen kolossalen Kreislaufkollaps erleiden und kurz vor der Autobahneinfahrt krepieren, was eine weitere Nacht in Genf zur Folge hätte.
    Man hätte nicht geglaubt, wie sehr es einem im Herzen weh tun |295| würde, seine große Liebe so anlügen zu müssen, aber es war die einzige praktikable Lösung; alles, was auch nur annähernd mit der Wahrheit zu tun gehabt hätte, kam nicht in Frage. Und mit dieser Lüge, dieser Notlüge würde er drei Tage zur Verfügung haben und sich damit zeitlich auf der sicheren Seite befinden. Sollte er früher zurück sein, wäre der Peugeot nicht krepiert. So einfach.
     
    Der Abschied, wenn auch nur für zwei Tage, fiel aus, als würde man sich mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr sehen; Tränen, Liebesschwüre, Liebemachen, Liebesschwüre, wieder Liebemachen. Man fuhr beflügelt los, als ginge es in den Urlaub – und nicht auf eine hochgradig kriminelle Schmuggeltour. Aber man war sich sicher, dass man den Schutzschild der Liebe auf seiner Seite hatte, was konnte einem schon geschehen, wenn man eine Liebe lebte, die das Schicksal so wollte, alles würde so zusammenspielen, dass man schon in knapp vierzig Stunden zurück sein und die Geliebte in die Arme schließen würde. Und tatsächlich verlief die Fahrt wie im Traum, keine Staus, keine Umleitungen, keine Polizeikontrollen.
    In Rijeka angekommen, rief man bei der Organisation an, traf sich mit dem Mann und antwortete auf seine Frage, ob es wahr sei, mit: »Ja.« Er meinte den Grund fürs Aufhören: die Frau. Und man zögerte nicht eine Sekunde: »Ja.« Sie war der Grund, sie war die Eine, die Richtige. Überraschenderweise gratulierte einem der Mann, drückte einem sogar die Hand und wünschte einem alles Gute. Allerdings nicht, ohne einen ebenfalls noch ermahnt zu haben, dass ein falsches Wort zu irgendjemandem, auch zur großen Liebe, Menschen ihr Leben kosten würde – das eigene und das der großen Liebe auch, die Familie, die eigene und ihre – man kenne das Lied. Deswegen sei auch Schluss, sofort, kein Zögern. Und man sagte es ihm. Man sei sich dessen absolut bewusst und habe nicht die Absicht, sein Leben oder das von irgendjemandem zu riskieren. Diese Lieferung noch und damit habe es sich erledigt.
    Er gab einem die Packen, sah einem nochmals ernst in die Augen, |296| um klarzustellen, dass er keine Rücksicht darauf nehmen würde, dass er einen kannte oder dass man glücklich verliebt war; man nickte und stieg aus. Zurück im eigenen Wagen, wusste man nicht recht, was tun. Aufgedreht und nicht im Ansatz müde, entschloss man sich gegen eine Übernachtung im Hotel. Man rief an, stornierte die Reservierung und machte sich nach einer kleinen Pizza und zwei Colas auf den Weg. Die Italiener wechselten die Schicht erst um elf, also musste man an der letzten slowenischen Raststätte vor der Grenze nochmals Halt machen, obwohl man erst eine halbe Stunde zuvor eine Pinkelpause eingelegt hatte. Man nahm, ohne viel zu überlegen, eine Zeitung zur Hand und war, wie jedes Mal von neuem, überrascht darüber, wie unterschiedlich die slowenische und die kroatische Sprache waren; man verstand – im großen und ganzen – kein Wort. Also drehte man Däumchen und wartete, tagträumte von der Rothaarigen, der großen Liebe, und musste sich sogleich zwingen, an etwas anderes zu denken, weil man sofort eine Erektion bekam, wenn man auch nur ansatzweise ihren Körper fantasierte.
    Zehn Minuten nach elf fuhr man los, Wagendokumente und Pass griffbereit. Man zeigte dem Zöllner beides, antwortete auf die Frage, ob man etwas zu verzollen habe, mit nein und wurde durchgewinkt. Obwohl man am liebsten das Gaspedal durchgedrückt hätte, riss man sich am Riemen und fuhr höchstens zehn bis zwanzig Stundenkilometer über der vorgegebenen Maximalgeschwindigkeit; kein Risiko, kein Risiko, kein Risiko. Um fünf Uhr morgens hielt man kurz vor Milano, um zwei Croissants zu essen und zwei Kaffee zu trinken. Man wusch sich das Gesicht, hielt es so lange unters eiskalte Wasser, bis man sich wieder frisch fühlte und mit dem Anblick im Spiegel

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