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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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man setzt sich an den Tisch und raucht. Der Soldat lächelt, zeigt auf das Päckchen und bittet einen um eine Zigarette und natürlich gibt man ihm eine.
    Nach ein paar gemeinsam gerauchten Zigaretten ist die Schachtel leer und man sagt ihm, man habe noch ein paar im Auto, Päckchen, und man geht gemeinsam raus und stellt im Wagen erschrocken fest, dass nur noch zwei von sechs Packungen da sind und der Polizist sich vier in die Jackentasche gesteckt haben muss, als man nicht hinsah, dieses verdammte Stück Scheiße, warum hat man nur nicht, sein Kopf wäre geplatzt wie eine Melone, und wäre es das letzte gewesen, was man für dieses Land getan hätte, bevor man entweder auf der Stelle erschossen oder später im Knast krepiert oder nach Kriegsrecht exekutiert worden wäre (wer weiß schon, wie das läuft in solchen Zeiten) – es wäre eine gute Tat gewesen und es gäbe einen korrupten Gauner in Polizeiuniform weniger auf diesem Flecken Erde.
    Man schenkt dem Soldaten eine Packung, wofür er sich herzlich bedankt, und man zündet sich eine an und schaut aufs Meer hinaus, als er einem die Hand auf die Schulter legt und ohne einen Hauch |54| von Befehlston oder Besserwisserei sagt, im Haus sei es sicherer und Zigarettenglut verräterisch und ein gutes Ziel, und man denkt sich, ein guter Mann.
     
    Im Wohnzimmer nimmt er sich zwei Stühle, plaziert sie vor dem Kamin, setzt sich auf den näher beim Feuer und legt die Beine auf den anderen. Gesprächig ist er nicht, der gute Mann, und man macht sich auf eine lange Nacht gefasst; neben dem Kühlschrank liegt eine Tageszeitung und man schnappt sie sich und ist für einen kurzen Moment versucht, die Pistole auf dem Kühlschrank aus dem Halfter zu nehmen und sie zu betrachten, man hatte noch nie eine Pistole in der Hand (um den Militärdienst hat man sich gedrückt, dort, wo man geboren worden ist; kämpfen, da war man sich schon immer sicher, kann man ohnehin, wenn es nötig ist, und mit einer Waffe umgehen auch, man hat nicht umsonst schon mit acht Jahren jedes PM, in dem die Konstruktionspläne, Funktionen und Vor- und Nachteile von Pistolen und Maschinengewehren, Panzern und Bomben, Nuklearsprengköpfen und Düsenjets und ihren Raketen analysiert wurden, auswendig gelernt, Karate, Messer und Schwerter – den Kampf und das Töten, daran besteht kein Zweifel, kennt man noch aus früheren Leben und man hat trainiert und geübt und weiß, dass man mit jedem schwachköpfigen Kadetten fertigwerden würde, ohne sich von ihm anschreien und rumkommandieren lassen zu müssen).
    Man spürt den Blick seines Wächters im Rücken, als man sich der Waffe nähert, und man entfernt sich vom Kühlschrank und setzt sich an den Tisch, als wäre einem nie der Gedanke gekommen, die Waffe zu nehmen, und liest die schrecklichen Headlines und Artikel, die von ausgebombten Städten und Dörfern, vergewaltigten Mädchen, Knaben und Frauen, aufgeschlitzten Schwangeren, Massakern an Alten, Frauen und Kindern berichten, von Greueltaten, deren Unmenschlichkeit einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, und man kämpft sich unter Atemnot und mit einem |55| Kloß im Hals durch Artikel über von Hunderten von Panzern und entsprechend vielen Soldaten eingekesselte Städte, deren Bewohner eines Tages vor Kasernen standen, die, wie sämtliche Kasernen im Land, von feindlichen Generälen, von langer Hand geplant, Wochen und Monate vor dem ersten Schuss unter dem Deckmantel von Truppenmanövern und Übungen klammheimlich in Nacht- und Nebelaktionen ausgeräumt worden waren, Bewohner, die sich jetzt mit Jagdgewehren, Groß- und Urgroßvaters Karabinern, Munition für einen Tag und Molotow-Cocktails vor Panzer stellen, sich auf sie werfen und im Häuserkampf mit bloßen Händen, Steinen, Messern, Säbeln und Heugabeln um ihr Leben und das ihrer Familien kämpfen und es zu Tausenden und Abertausenden lassen, macht- und hilflos gegen die Waffen des übermächtigen Gegners.
    Krieg? Das soll Krieg sein? Diese verdammten Schweine …
    Man liest die Worte verschwommen durch Tränen, eine, zwei Stunden lang, bis einen die Kraft verlässt angesichts der eigenen Hilflosigkeit und der Ignoranz und Gleichgültigkeit Europas und der ganzen Welt, hinlegen könnte man sich mittlerweile, denn die vor Wut verkrampften und zittrigen Glieder werden langsam schlaff, als es die Stille durchschneidet wie eine Kettensäge, das erste Schnarchen, laut und unmissverständlich: Der gute Mann schläft mit offenem Mund, sein Kopf

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