Drift
Nacht hinausgestoßen, keine Sekunde nachdem Tomo gerufen hat »Sauber!«, und da erinnert man sich an die Pistolen der Polizisten und die Munition und man sprintet nach links, über die offene Zwanzig-Meter-Strecke, auf der man jederzeit erschossen werden könnte, und wieder ist es so, dass man unversehrt hinter dem kleinen Mäuerchen landet, weil keiner der Feinde denkt, dass einer so bescheuert und lebensmüde sein könnte – das wird einem noch das Leben retten, denkt man sich für eine Millisekunde, die Lebensmüdigkeit.
»Was tust du da, verdammter Idiot?«, schreit Nadas kräftige, für eine Frau äußerst tiefe Stimme. »Einen Augenblick!«, schreit man zurück und packt Polizeipistolen und Munition in den kleinen Betonrucksack, und dann Panzersalven, mindestens vier, fünf Panzer müssen es sein, und das Haus explodiert, das obere Stockwerk löst sich auf wie eine Pusteblume, das Erdgeschoss ist auf der dem Wald zugewandten Seite bis auf die Grundmauern aufgerissen und man sucht die neuen Kameraden – dort, drei, vier, sie leben noch, Nada, wo ist sie? Da, sie rappelt sich auf, hinkt Boro entgegen, während sich Tomo erhebt, darunter Marina, auf die er sich beschützend geworfen hat, der Rucksack automatisch zugeschnürt und zu Boris gerannt, Nadas linken Arm gepackt und über die Schulter geworfen und dann Rückzug, rennen, humpeln, was das Zeug hält. »Was hast du dort gesucht?«, fragt Tomo und man sagt ihm, man habe noch ein paar Pistolen und Munition, und auf Marinas Frage, woher, antwortet man: »Von den Polizisten!«
Boro scheint nur dazu da zu sein, einem übers Maul zu fahren, denn als man Marina fragt, wo es jetzt hingeht, schnauzt er einen an: |111| »Sei still, verdammt noch mal!« Und man schluckt die zweite Frage runter, nachdem Nada, die im Mondschein zur Schönheit wird, sich von einem losgerissen hat und jetzt ohne Hilfe weiterrennt, runter vom Hügel mit einer neuen Ruine drauf, als eine zweite Salve einschlägt, ein Treffer ins Haus, die anderen Einschläge jedoch vor, hinter und neben der Gruppe, so dass man alle paar Meter von einer Druckwelle umgerissen wird.
»Sie wissen, wo wir hinwollen!«, schreit man taub und panisch, als Josko auftaucht und einen, stolpernd neben einem herrennend, am Ärmel packt und mitreißt. »Nein«, brüllt er, »das tun sie nicht, sie wissen nicht, wo wir hinwollen, sie schießen dorthin, wo sie uns vermuten!« Man will von ihm wissen, warum man dann nicht in eine andere Richtung rennt, und er lächelt, man kann es an dem kurzen Aufblitzen der weißen Zähne erkennen.
»Du hast noch einiges zu lernen«, sagt er und Marko zischt: »Rechts!« – und alle folgen ihm, dann wirft er sich hin und man realisiert, dass es ein Hügel ist, den man die letzten Minuten hoch gelaufen ist, und dass man sich jetzt hinter der Kuppe hingeschmissen hat und versucht, sich kurz auszuruhen und zu Atem zu kommen. »Was jetzt?«, flüstert man Tomo zu, der neben einem zu liegen gekommen ist, und er antwortet leise: »Das entscheidet Marko. Und frag, verdammt noch mal, nicht so viel.«
Marko weiß, wohin es geht, und nach der Beobachtung weiterer Panzersalven und nach einer halben Stunde, die man schweigend und in einem Höllentempo gerannt ist, kauert man sich in einem Wäldchen zwischen scharfem Gestrüpp hin und sieht zu einem Haus hinüber, das etwas größer ist als das zerbombte und das man auch aus dieser Entfernung noch deutlich als Haus und nicht als Fels erkennt. »Das ist Josips Haus«, sagt Boro, »aber ich weiß nicht, ob wir nicht lieber bis Tagesanbruch warten sollten … Der knallt uns ab, wenn er sich nicht hundert Prozent sicher ist!«
|112| Man hätte nicht gedacht, dass Boris so vorsichtig ist. Aber Markos Antwort zeigt, dass sich Boris nicht um sich selbst sorgt, sondern um die anderen, und wie sehr, das wird einem erst später bewusst werden.
Marko sagt, er gehe jetzt und man solle nicht schießen, auch wenn aus dem Haus gefeuert würde, und er steht auf und geht aufrecht auf das Haus zu, als spazierte er an einem Sonntag vor Diokletians Palast über den Stadtplatz seiner Heimatstadt Split, da ruft eine Stimme von irgendwo aus dem Haus: »Stehenbleiben!«, und Marko sagt: »Josip, wir sind’s, Boris, Marina, Tomo, Nada, Josko!« – und geht unbeirrt weiter.
Josip, der alte Mann im Haus, fragt: »Und dein Name?« – »Marko – meine Tochter heißt so wie die von deinem Sohn Antun.« Das scheint Josip zufrieden zu stellen, denn er
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