Drift
man zieht die Stiefel aus und sackt, wie von einer Kugel aus dem Maschinengewehr des Schützenpanzers mitten in die Stirn getroffen, zur Seite weg und fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
|170| PIJAVICA
Martin öffnete langsam die Augen und schaffte es nach einer Weile, das rechte Bein in Zeitlupentempo neben die Matratze auf den Boden zu stellen. Er versuchte, sich zu orientieren. In seinen Ohren wummerte es, als hörte er Kanonen und Detonationen, aber es war sein Blut, das unter Hochdruck durch seine Kapillaren pumpte.
Er drehte sich, zog das linke Bein neben das rechte und stand auf. Wackelnd ging er vom Bett zum Tisch und nahm ohne zu zögern eine auch für seine Verhältnisse zu große Linie; er wusste genau, dass seine Schleimhäute eine solche Menge nicht absorbieren konnten, aber das war ihm egal: Er würde den Rotz runterschlucken, und was nicht in der Nase aufgenommen wurde, würde er über die Gedärme absorbieren.
Er nahm die vorbereitete Alufolie, schüttete Heroin rein, riss ein Stück Papier von einem Block, rollte es zu einem dicken Rohr und steckte es in den Mund. Die Folie in der Linken, hielt er mit der Rechten das Feuerzeug unter die Alufolie und das Rohr im Mund darüber. Nach einer Sekunde stieg schon die erste, dicke Rauchwolke auf, und er saugte den aufgestiegenen Heroinrauch durchs Papierrohr gierig in sich hinein, machte das Feuerzeug aus und füllte die Lungen bis zum Platzen. Um nichts vom Rauch entwischen zu lassen, hielt er die Luft mit zusammengekniffenen Lippen an, so lange er konnte. Fünfzehn, zwanzig Sekunden vielleicht, dann atmete er langsam aus. Von der dicken, bräunlichen Rauchwolke, die er eingeatmet hatte, gab seine Lunge nur noch dünnen, weißen Rauch zurück; die Hand mit der Folie sank auf den Tisch, die Rechte mit dem Feuerzeug fiel in seinen Schoß, und Martin lehnte sich zurück und schloss die Augen: »Das ist es«, dachte er, »das ist Erlösung. Die einzige wahre Erlösung, die man in diesem Leben erfahren kann – alles andere ist Illusion.«
Er rauchte die Folie zu Ende, nahm noch eine Linie und legte sich |171| zurück aufs Bett, überließ sich dem tranceartigen Zustand, der ihn aus seinem stickigen kleinen Zimmer in eine andere Welt trug. Er dachte an Helena. An ihr Lächeln und ihren schlanken, festen Körper. Obwohl sie ihm normalerweise so sehr fehlte, dass er den Verstand darüber verlor, zogen ihm die Gedanken an sie jetzt nicht das Herz zusammen, sondern ließen es flattern, als wäre er frisch verliebt. Er erinnerte sich an ihren ersten Kuss. An das erste Mal Händchenhalten. Und dann sah er sie am Strand sitzen und lachen, und er ließ sich neben sie und in die Erinnerung an ihren ersten gemeinsamen Segelurlaub spülen, die glücklichste Zeit seines Lebens, verbracht auf der Melissa, genauer der Melissa II, die zwar kein großes Schiff war, aber mit ihren dreiunddreißig Fuß, also gut elf Metern, für ein Paar, dessen eine Hälfte (in ihrem Falle Helena) noch nie segeln war, von der Größe her genau passte, weil Martin sie guten Gewissens einhändig segeln konnte.
Sie hatten ihren Goldhund dabei, der sich glücklicherweise sehr geschickt anstellte. Martin hatte schon Hunde gesehen, die von ihren Haltern getragen werden mussten und dann nichts Besseres wussten, als über die Reling ins Meer zu springen, mitten ins meist wenig saubere Hafenwasser – dann das Rausholmanöver, die Abspritzerei, die Anbinderei, das Schütteln und wieder das Tragen des strampelnden Viehs über die Passarelle zurück aufs Schiff. Nein, da hatten sie Glück, Helenas Köter sah das alles viel pragmatischer: Er ging unaufgefordert über die Passarelle an Bord, schaute sich kurz im Cockpit um, suchte sich die schattigste Stelle aus und machte es sich bequem, während er den beiden zuschaute, wie sie sich mit den Bagagen abmühten und versuchten, mit Ruck- und Seesäcken voller Kleider und Ausrüstung bepackt, das Gleichgewicht auf der schmalen und unter jedem Schritt wankenden Passarelle nicht zu verlieren.
Der alte Köter blieb schön im Schatten liegen, gähnte hie und da, amüsiert ob der Unsinnigkeiten, die Herrchen und Frauchen da vollführten; rauf aufs Schiff, runter vom Schiff, rein in die Kabine, raus aus der Kabine – und das alles in der größten Hitze des Tages |172| und ohne Sonnendach. Unbequem wurde es für ihn nur, wenn ihn jemand kurz verscheuchte, weil der Platz gebraucht wurde.
Als sie alles an Bord gebracht hatten, kam der Skipper von der
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