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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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die einzelnen Operationssäle verteilt, manche liegen wimmernd im Gang, manche sind still, manche schreien. Kein Wunder, denkt man, dass sich kein Arzt um die Wunde am Oberarm gekümmert hat; wer auf den eigenen Beinen ins Krankenhaus gelangt, um den kümmern sich Krankenschwestern – die Ärzte haben genug damit zu tun, Leben zu retten.
    Ohne zu überlegen, nimmt man eine Tablette und schluckt sie runter, wozu man den ganzen Weg durch die Eingangshalle braucht. Draußen fährt ein Militärlaster vorbei, hinters Krankenhaus – man glaubt Tote gesehen zu haben, aufeinandergestapelt. Aber man ist sich nicht sicher. Keine Toten, beschließt man. Materialsäcke. Säcke mit Kleidern drin. Der Zustand im eigenen Kopf wird immer wirrer. Man steht auf einem Platz, kann sich nicht orientieren, sieht den Menschen zu, wie sie ihren Tätigkeiten nachgehen. Plötzlich spürt man eine Hand am Ellbogen. Man dreht sich um, der Boden scheint zu wanken, stabilisiert sich erst wieder, als man den Kopf stillhält und versucht, den Blick auf das Gesicht vor einem zu fokussieren: Es ist das Gesicht eines alten Mannes. »Geht es dir gut, Junge?«, fragt er besorgt. Man sieht ihn nur an, fragt sich, wen er meint. »Kann ich dich irgendwo hinbringen? Wo sind deine Kameraden?« Man antwortet auf Deutsch. Dann Englisch. Alles durcheinander. Man schließt die Augen, Blitze von Mündungsfeuer im Kopf. Geschrei. Das leise Winseln des Schäferhundes im Ohr, neben dem man gelegen und Feinde erschossen hat. Eine Stimme spricht und man denkt, das ist ja Kroatisch, öffnet die Augen und sieht einen alten Mann vor sich stehen. Der war schon vorher da, vermutet man, sagt »Polizeiposten« auf Kroatisch und er hakt einen unter und zieht einen mit.
    Langsam geht es besser und man kann wieder sprechen. »Vielen Dank, mein Herr«, sagt man und der Alte, froh, dass man sich artikulieren kann, lächelt: »Mach dir keine Sorgen, Junge.« Man erkennt das Gebäude schon von weitem. »Danke«, sagt man nochmals und löst sich aus seinem Griff. »Von hier aus schaffe ich es selbst.« |168| Man wiederholt das einige Male, weil er einem zunächst nicht glaubt und er sichergehen will, dass man nicht mitten auf der Straße stehenbleibt und überfahren wird. Als man ihn schließlich überzeugt hat, geht er freundlich lächelnd zurück in die Richtung, aus der man gekommen ist. »Policija« steht an dem Gebäude. Der Keller, wo man das Gewehr bekommen hat, ist weiter die Straße runter, dann links. Und von dort aus muss man zwei Mal rechts abbiegen und dann links durch den Garten. Dort wartet Marina. Wenn sie nicht schon schläft.
    Während man wie in Trance durch die Straßen geht, die erschrockenen Gesichter von Passanten nicht richtig wahrnehmend, versucht man, sich Marina nackt vorzustellen, aber es will einem nicht gelingen. Man verpasst die zweite Gasse, geht wie betäubt weiter, bis man merkt, dass links kein Garten kommt, also kehrt man um, geht zurück, findet die Gasse und schließlich den Garten vor dem alten Haus, man betritt es, geht hoch zur Wohnung und klopft, nicht sicher, ob man einfach eintreten soll. Man hört, wie ein Stuhl zurückgeschoben wird und Schritte auf die Türe zukommen. Lass es Marina sein, betet man, aber es ist Marko. Seine Augen sind gerötet, man ist sich sicher, dass er geweint hat. Als er einen sieht, versucht er ein Lächeln, das aber kläglich ausfällt. »Komm, du musst dich hinlegen«, sagt er, zieht einen in die Wohnung und schließt die Türe hinter einem.
    »Los, das Zimmer da, hau dich aufs Ohr.« Unfähig zu denken, folgt man seinen Anweisungen und geht auf das Zimmer zu, in dem man schon geschlafen hat. Auf halbem Weg bleibt man stehen, weil sich eine Frage im Kopf formuliert. »Legst du dich nicht hin?«, fragt man Marko und er schüttelt den Kopf. »Ich habe gewartet, damit ich sehe, dass du okay bist. Jetzt muss ich Bericht erstatten.« Und damit hebt er kurz die Hand, nimmt seine Jacke vom Stuhl und geht zur Tür. Den Türknauf schon in der Hand, hält er inne, senkt den Kopf und sagt, ohne sich umzudrehen: »Was in der Scheune geschehen ist, das mit dem Beil, bleibt unter uns.«
    |169| Der Boden wackelt wieder, man sieht, wie Marko durch die Tür verschwindet und sie leise schließt, und man dreht sich um und torkelt ins Zimmer, lässt sich auf die Matratze fallen, schnürt die Stiefel auf, ohne sehen zu können, was die Hände machen, schnelle Abfolgen von blutigen Körpern, vom Beil, das Zähne und Kiefer bricht,

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