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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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sich gesetzt hatten, und nahm dann am letzten freien Tisch Platz. Als die Bedienung kam, bestellte er dasselbe wie die Arbeiter: einen Deziliter Bier. Das konnte man in Dalmatien nämlich. Einen Deziliter Bier bestellen. Sein Onkel hatte ihm vor langer Zeit einmal erklärt, weshalb dem so war.
    »Warum«, hatte ihn der Onkel gefragt, »soll ich drei Deziliter bestellen, einen Schluck nehmen und dann einen zweiten und dann, nach vielleicht sieben bis zehn Minuten, lauwarmes Bier trinken? |202| Ist doch Blödsinn. So was machen nur die Deutschen und ihr Schweizer. Aber bei euch ist’s auch immer scheißkalt, stimmt’s?«
    Martin hatte schon protestieren wollen wegen des »ihr Schweizer«, aber sein Onkel gab ihm einen Klaps auf die Wange, küsste ihn auf dieselbe Stelle und nahm einen großen Schluck aus seinem eiskalten Deziliterglas.
    »Aaaaah!«, seufzte er und leckte den Schaum von seinem Schnauz. »So muss das sein, verstehst du? Einen Deziliter nach dem anderen, mein Lieber. So bleibt das Bier immer schön kalt und die Logik immer schön nüchtern.«
    Martin lächelte, als er sich an die letzte Bemerkung seines Onkels erinnerte, und das Mädchen, das die Bestellung entgegengenommen hatte und ihm gerade das Bier hinstellte, lächelte ebenfalls. Martin fummelte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche, und als er mit seinem charmantesten Lächeln und eindeutig ausländischem Dialekt fragte, wann die Fähre hinüber zur Insel Skolj fahre, errötete die Kleine, und das Lachen der Arbeiter am Nebentisch, die die Szene offensichtlich genossen, machte ihre Verlegenheit nur noch schlimmer.
    »In … in … etwa einer … ähm, halben Stunde«, stotterte sie, fand aber sogleich ihre Contenance wieder und fuhr sachlich und schnippisch fort: »Aber das weiß niemand so genau, weil der Herr dort drüben (sie zeigte auf einen graumelierten Mann in Kapitänsuniform, der mit einigen der Arbeiter am Tisch saß und ein Glas weiße Bevanda trank) es nie so genau nimmt: Solange der da sitzt, müssen Sie sich also nicht beeilen. Und wenn er aufsteht, können Sie in aller Ruhe noch fünf Minuten warten, bevor Sie ihm folgen, denn so schnell ist der nicht mehr auf den Beinen.«
    Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging mit erhobenem Kinn und einem gespielt abschätzigen Blick an den grinsenden Männern vorbei zurück ins Café.
    »Die Kleine hat’s ganz schön dicke hinter den Ohren …«, sagte einer der Männer und ein anderer fügte hinzu: »Und dir, Barba, dir |203| hat sie’s ja wohl ganz schön gegeben …« Wieder schallendes Gelächter. Und das um sieben Uhr morgens.
    So einfach, dachte Martin. So einfach laufen die Dinge hier. Keine Gäste außer einem Kroaten, der Ausländer ist, kein Fahrplan, keine unnötige Eile. Wenn der Kapitän aufsteht, folgt man ihm. Nichts einfacher als das. Und nichts logischer.
    Martin streckte die Beine von sich, erhob das Glas in Richtung der Arbeiter und des Kapitäns, die ihre Gläser ebenfalls hoben und ihm zuprosteten. Er trank das kalte Bier und bestellte gleich noch ein zweites, während er den Menschen zusah, die sich langsam und schwatzend auf den Weg zur Arbeit machten: Die Männer bestiegen Busse, die sie auf die andere Seite der Insel brachten, wo sie in der großen Schiffswerft riesige Tanker generalüberholten, die Frauen machten sich zu Fuß auf den fünfminütigen Spaziergang vom Hafen zum Dorf, wo sie entweder in Läden arbeiteten, ihre Waren auf dem Dorfmarkt feilhielten, Restaurants führten oder Bekannte besuchten.
    Am liebsten hätte Martin ein paar Bilder geschossen, so fremd kam ihm das bei aller Vertrautheit vor. Aber die Kamera in seinem Kopf musste genügen: Eine andere hatte er nicht dabei und er hätte sie auch unter keinen Umständen hervorgeholt.
    Er winkte die Kellnerin lächelnd zu sich und sie tänzelte heran, als wäre er ein Filmstar, der sich auf ihre kleine Insel verirrt hatte.
    »Dieses Mal ein Zweideziliterglas, bitte!«
    »Kommt sofort!«, sagte sie, lächelte und verschwand leichtfüßig im Café.
    »Das mit dem Akzent muss ich auch mal probieren …«
    Martin drehte sich zu den Männern um und versuchte herauszufinden, von wem der Kommentar gekommen war und ob er nett oder zynisch gemeint war. Der Barba, wie man Kapitäne in Dalmatien nannte, zwinkerte Martin zu und sagte zu einem der Männer, der Martin mit zwei fehlenden Zähnen breit angrinste: »Das würde bei dir auch nichts ändern, mein Alter … Der Junge da könnte Chinesisch |204| reden

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